Zeichnung: Rolf Hannes
Nach dem Krieg, ich muß etwa zehn Jahre alt gewesen sein, geriet ich an ein Buch, das mich auf ganz besondre Weise faszinierte. Das wirkt fort bis heute, obwohl ich Verfasser und Titel längst vergessen hab. Ich erinnere den dunklen, schwärzlichen Einband. Darauf waren Verfasser und Titel in scharlachroten geschwungenen Buchstaben eingestanzt. Der Name des Autors war ein slawischer, von der Sorte Przcinski, für mich kaum auszusprechen. Das Buch hatte etwas Düsteres, unerklärlich Finsteres, durch die rote Schrift teuflisch schön gesteigert, so war auch sein Geruch, modrig, faulig. Bücher rochen so, die aus der Wohlbehütetheit einer Bibliothek für eine Weile in Schuppen, Lagern, Kellern oder gar unter Trümmer geraten waren. Man sagt, Gerüche seien sehr wichtig im Gedächtnis der Menschen. Ich kann das bestätigen. Der Geruch dieses Buchs, dieses faulige Süßsaure ist mir so gegenwärtig, wie wenn ich´s in der Hand hielte.
Diese Schwarte mit aufgebognen Einbanddeckeln, beim hinteren war ein Drittel weggerissen, gehörte einem Schäfer. Ich hatte ihn beobachtet, wie er abends seine Schafe am Waldrand zusammentrieb für die Nacht. Der Wald und die Wiese davor gehörten uns, noch aus der Zeit, als mein Großvater einen Bauernhof besaß. Mein Vater, der auch gerne Bauer geblieben wäre, dem es aber aus widrigen Umständen verwehrt wurde, hütete seine wenigen Ländereien und Waldstücke, die übriggeblieben waren, wie ein Sammler seine Bilder oder kostbaren Bücher. Nur Bauern, die ihm zusagten, durften die Wiesen mähen oder auf den Äckern Saat bestellen oder Kartoffeln pflanzen. Das machte er von Jahr zu Jahr mit dem jeweiligen Bauern aus. Der Zins waren dann Brote, Kartoffeln, Milch und Eier, und manchmal eine Schweinehälfte. Nie hat mein Vater auch nur ein Äckerchen verpachtet.
Er sagte zu mir: Schau einmal, wie er es so hält, dieser Schäfer. Wenn er sich dort anständig einrichtet mit seinen Schafen, soll es mir recht sein. Gefragt hat er nicht, aber im Herbst steht die Flur den Schäfern offen, so war das schon immer. Ich bin sogar froh, wenn die Schafe das Gestrüpp, das vom Wald in die Wiesen hineinwuchert, kleinhalten.
Also ging ich zu dem Schäfer und sagte, mein Vater ließe ihn grüßen, und es wäre ihm sehr recht, wenn die Schafe dafür sorgten, daß der Wald sich nicht in die Wiese hinein vergrößerte. Er war noch sehr jung, dieser Schäfer, und obwohl er sehr ernst dreinschaute und wortkarg schien, mochte ich ihn auf Anhieb. Als ich ihn beobachtete, kam mir der Gedanke, ich könnte auch Schäfer werden. Seine Herde war nicht allzugroß, und zwei zottelige Hunde hielten sie auf Trab. Ich sah ihn minutenlang unverwandt stehen und einfach vor sich hinschauen. Ich sagte mir, der hat die Träumerei drauf wie ich. Und er las, und das war das Auffälligste und fast Unanständige: ein erwachsener Mann, der im Stehen ein Buch vor sich hält, am hellichten Tag, stundenlang.
Das Gefühl einen Gleichgesinnten vor mir zu haben, ließ mich nach seinen Büchern fragen. Ich lese auch gern, sagte ich, nur, meine Brüder finden das daneben, wenn ich tagsüber lese. Ich habe noch nie einen Erwachsenen mit einem Buch angetroffen, ich meine am Tag, oder gar vormittags. Sie lesen nur Zeitungen. Der Schäfer schaute mich an, und ich glaube, es ging ihm wie mir, wir mochten uns. Er ging mit mir einige Schritte in den Wald hinein, wo ein kleiner geschlossener Handkarren stand. Darin bewahrte er neben seinem Schlafsack und einigem Handwerkszeug seine Bücher auf.
Viele davon hat man mir geschenkt, oder ich habe sie gefunden, sagte er. Die Leute wissen gar nicht, was sie alles wegwerfen. Hier, das zum Beispiel, es sieht nicht besonders vorteilhaft aus, aber es ist ein großartiges Buch. Und als ich anderntags wieder bei ihm vorbeischaute, fragte ich ihn, ob ich mal in dieses Buch hineinschauen dürfe. Aber klar, antwortete er, nimm´s mit, und wenn es dir gefällt, schenk ich es dir.
Meine Mutter duldete es nicht im Haus, weil es so übel stank. Also wickelte ich es in ein Stück Segeltuch und versteckte es unter der Stufe einer steinernen Treppe, die zu unserem Garten führte. Ich las darin nur in heimlichen Stunden, draußen, und manchmal stehend wie der Schäfer. Mich störte sein Geruch überhaupt nicht, denn ich war ganz beschäftigt mit dem eigentlichen inneren Abenteuer des Buchs, und das waren seine Buchstaben.
Irgendwann habe ich das Buch aus den Augen verloren. Lange habe ich gedacht, es müßte mir eines Tags wiederbegegnen, in einer neueren Auflage vielleicht, bis heute warte ich darauf. Mit zehn war ich bereits ein emsiger, wenn auch langsamer Leser, der ich bis heute geblieben bin. Ich hangelte mich im Buch von Satz zu Satz, wie ein Wandrer, der öfters innehält, um die Landschaft zu genießen. Das Buch bedeutete für mich die Welt, wie ich sie in meiner alltäglichen Umgebung nicht erlebte. Es handelte von den Geheimnissen der Physik, dem Aufbau des Weltalls. Immer und immer wieder hab ich die Zeilen durchforscht, ich hatte die 7 Welträtsel vor mir. Eins davon war die Einsteinsche Relativitätstheorie. Davon hatte ich nie gehört.
Wahrscheinlich war der Autor bemüht, dieses Wunder, von dem ich vor einigen Wochen noch gelesen hab, kein Mensch könne es verstehn, anschaulich darzulegen auf seine Weise. Und jetzt versuche ich das Bild zu beschreiben, dessentwegen die Erinnerung an dieses Buch mich mein lebenlang begleitet hat. Um einen Aspekt der Relativität zu erklären, benutzte der Verfasser folgendes Bild. Ein Käfer klettert, ausgehend von der Seitenzahl 13, das Blatt hoch bis zum oberen Rand, und, ohne seine Richtung zu ändern, auf der andern Seite 14 nach unten. Der Käfer bemerkt weder die Richtungsänderung noch einen Unterschied in oben und unten. Dieses unerklärlich Gleiche im unerklärlich Anderen ist ein Aspekt der Relativität.
Ich nehme an, dies war viel komplexer dargestellt, aber was ich davon behalten habe, ist in dieses Bild geronnen: Ein Käfer, das war ich, klettert von der Seitenzahl 13 zur Seitenzahl 14. Er durchmißt beidemale die Höhe des Blatts, einmal im Hochklettern, einmal im Abwärtsklettern.
Der Käfer durchmißt scheinbar eine einzige Strecke, denn er krabbelt immer geradeaus, also erfährt er auch nur eine Dimension. In Wirklichkeit aber befindet er sich auf Seite 14 in einer anderen Dimension.
Dann stellt das Buch einen weiteren Vergleich an. Der Käfer klettert von der Seitenzahl 13 auf kürzerem Weg, nämlich seitwärts zum Rand des Blatts, und diese Richtung beibehaltend kommt er zur 14, weiter kommt er in das Tal der Bindung, aus dieser Furche hochkrabbelnd kommt er zur 15 und so weiter. Wenn der Käfer durchhält, hat er auf der Seite 97 eine riesige Strecke hinter sich gebracht. Aber diese Strecke ist relativ. Denn denkt man sich das Buch zugeklappt, ist der Käfer seinem Ursprungsort sehr nah.
So sah das Weltall aus für mich, es war ein riesiges Buch mit unendlich vielen Seiten, die ich durchkrabbelte, ohne vom Fleck zu kommen. Ich muß sagen, mit zehn hatte ich eine ungefähre Ahnung von der Relativitätstheorie.