Wertlos

Zeichnung: Rolf Hannes

„Welchen Wert hast du?“„Es gibt niemanden, der einen Wert hat.“ Er schien über meine Frage zu lachen, das Zucken in seinen Mundwinkeln verriet ihn. „Ich sicher nicht für dich.“

„Wenn das so ist.“ Vielleicht zuckte ich die Achseln zu meinen Worten, ich weiß es nicht mehr, aber es fühlte sich in der Erinnerung so an. Zu gut allerdings weiß ich noch um den rauen Griff des Messers in meiner Hand, das leise Geräusch, als die Klinge aus der Scheide fuhr. Mein Blick starr auf mein Gegenüber.

Doch, du hast einen Wert, dachte ich. Für mich hast du einen Wert. Aber es war nichts, was ich schützen wollte. Er war das Einweihungsband, das zerschnitten wurde. Ein Symbol, eine Geste. An die Beteiligten, an die Öffentlichkeit. Automatisch wog ich das Messer in der Hand, suchte den Schwerpunkt, bevor meine Finger sich fest schlossen, die Waffe zu einem Teil von mir wurde.

Der Stahl teilte die Luft, und ich merkte den Zug im ganzen Arm, legte noch mehr Kraft in die Bewegung, stieß mit der anderen Hand endlich den Tisch zur Seite, der uns, dem Eben-Nicht-Wertlosen und mich trennte, um die Bahn frei zu haben für das Ende, den Aufprall, die Erschütterung in meinem Körper. Die Klinge fuhr tief in seine Brust. Ich schien sein Blut auf meiner Zunge schmecken zu können, den Schock der Schmerzen pulsieren zu fühlen. Und es war ein wohliges Gefühl. Doch es war Einbildung, natürlich, und Sekundenbruchteile später schmeckte ich mein Blut, pulsierten Schmerzen durch meinen Körper, und ich fand mich auf den Boden liegend wieder.

„Das war schnell“, sagte er, und ich dachte zunächst, er meinte sich selbst. Ich kämpfte mit dem Luftholen. Meine Knie zitterten und nur unter größter Anstrengung konnte ich mich zur Seite drehen. So rückte er wieder in mein Blickfeld. Das Messer steckte bis zum Heft in seiner Brust. Er saß auf dem Boden, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, die Augen fröhlich und neugierig auf mich geheftet, ein breites Lächeln im Gesicht.

Bis heute weiß ich nicht, wie er mich niedergestreckt hatte, aber ich erholte mich langsam davon und brachte mich ebenfalls in eine sitzende Position. Eine Vielzahl an Stellen in und an meinem Körper schickten dabei Schmerzsignale zum Gehirn, aber ich konnte sie erfolgreich ignorieren. Und als ich saß, musste ich mich erstmal nicht weiter bewegen. Konnte es ruhig angehen lassen. Hatte ich geglaubt. „Ich bedauere das“, sagte ich überraschend klar und nickte zum Messer und dem größer werdenden Kreis aus Blut, der sich auf seiner Kleidung bildete. „Das musst du mir glauben.“„Das tu ich.“ Er zupfte etwas am Saum seines Pullovers. „Das tu ich“, wiederholte er. „Du bist trotzdem im Irrtum. Ich habe keinen Wert. Nicht für dich oder sonst jemanden.“„Doch.“ Stur nickte ich. „Die Gruppe wird mir deinen Tod gutschreiben, und ich bekomme die Punkte, die sie dir beigemessen haben. Und ein Verräter dürfte mir einige einbringen.“

Nun schüttelte er den Kopf. Traurig, wie mir schien. „Da gibt es nur ein Problem.“ Er hob eine Hand, die plötzlich den Messergriff packte und die Klinge aus dem Körper zog. Polternd fiel das Messer zu Boden und mein Gegenüber erhob sich langsam. Ich starrte auf die Wunde, das grobe Fleisch, das zerrissen hervorschien. Mühsam rappelte ich mich auf und stand schließlich leicht wankend. Meine Stimme hatte nur etwas an Kraft wiedererlangt, alles andere nicht. Einen Kampf hätte ich so kaum führen können. Ungläubig musterte ich ihn. „Welches Problem?“, brachte ich schließlich hervor. „Ich bin bereits tot.“ Nach den Worten ging er einfach. Wandte sich ab, ein kleines Lächeln im Mundwinkel. Öffnete die Tür und schritt hindurch, ohne dass er sich nochmal umsah.

Ich hielt ihn nicht auf. Damals nicht und heute nicht. Wo ich ihn sehe, dort auf der anderen Straßenseite. Denn heute bin ich selbst ein Verräter. Und kenne sein Geheimnis. Tot ist man wertlos. Für alle anderen. Nur für sich selbst vielleicht nicht.

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Eine Antwort zu Wertlos

  1. Ursula Gressmann sagt:

    Bedrückend + berührend + futuristisch = KI ?

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