Ich lebe in meiner Zelle. Als behäbige Nuclea, die die Organellen des Alltags um sich versammelt und in Betrieb hält, auf gesunde Reinlichkeit achtet und auf optimale Energiezufuhr – und überhaupt immer das richtige Maß finden muss, von allem, für alle.
Cytologisch ist alles in Ordnung, wir können uns sehen lassen, unsere Werte sind bestens. Gerade ein Abitur mit 1,0. Und ich, als die Direktion der Familie, die den Organellchen das Leben, das Sprechen, das Schreiben, das Schachspielen beibrachte, bin ein bisschen stolz. Aber nur kurz. Denn mir obliegt die Kontrolle der Kontrolle der Funktionstüchtigkeit. Ob die pädagogischen Regelkreise nicht etwa eiern. Damit die soziale Kompetenz nicht stagniert. Man geht davon aus, dass alles rundläuft; sowieso. Aber wenn sich doch einmal etwas lückenhaft zeigt, schaut man auf mich und schiebt es, selbstredend als Negativbilanz, auf mein Konto.
In meinem Innern trag‘ ich ein fettes klumpiges Regelwerk, das Genom für alle. Das übersetze ich ständig; einmal in süßer Stimmlage, einmal energisch. Meist throne ich oval meditierend in unserem Zellverband, lese und lese und lese leise in meinem Kompendium und finde es beinahe beruhigend, dass sich alle Membranen um mich gefestigt haben wie Lebensstützstrümpfe.
Zeichnung: Marlies Blauth
Das war früher anders. Da bewegte ich mich amöbengleich durch die Kultur, heute so, morgen so. Ungeformt war ich, formierte mich jeden Moment neu. Es war eine Ästhetik der Überraschung, und an jedem Füßchen klebte ein Traum. Niemals in glatt gerührter Nährlösung herumdümpeln, stattdessen: meine Träume ausfüllen, prall füllen mit Lebenssaft, unbedingt! Ich tänzelte durch die Wassertropfen des Tages und kannte keine Gefahren. Irgendwann sollte man sie alle kennen, das sah ich ein. Und ich mutierte zum Bauelement eines Familiengewebes. Man muss sich irgendwann festlegen, festsetzen. So avancierte ich zum Zellkern, präsidierte, hatte mein Ehrenamt inne. Die Geschäfte übernahmen die anderen.
Inzwischen bin ich ecken- und kantenlos, rundlich, wie ein abgeschmirgelter Stein. Verharre bequem in meiner Lebensmitte: der Zelle. Nuclea, die Langeweile, ein tumber kraftloser Kern. Heute erklärt man mir Dinge, die ich den Organellchen längst präzise dargelegt habe. Meine Sprache dabei war immer verständlich, natürlich. Die Erfordernisse haben mich vereinfacht, und genau das wirft man mir heute vor.
Ich sollte mich schleunigst aus diesem Gewebe häkeln, mich zurücktauschen in die Freiheit. Mich dünnemachen, auf Wandelgang gehen, Wechseltierchen sein. Ich beginne zu füßeln, mit meinen Wünschen zu füßeln. Öffne die Tür meiner Reihenhausreihe und spähe hinaus. Staunen möchte ich wieder. Jeder Wassertropfen ist anders. Ich glaube, das hatte ich ganz vergessen.
Der Text gefällt mir, so nachvollziehbar und dadurch traurig. Aber noch nicht resigniert. Viel Erfolg beim Häkeln, möchte ich der Person zurufen. Und: Die beste Zeit beginnt jetzt!
Danke, da freue ich mich! (Auch über den allerersten Kommentar zu meinen Texten hier).