Kalenderwoche 14: Virus im Haus “Stimmt es, dass Ihr alle positiv getestet seid?“
Der folgende Text ist ein Auszug aus dem neuen Buch Infiziert oder krank – Zwölf unglaubliche Wochen im Seniorenheim (I.C.H. Verlag)
Auf das Buch aufmerksam gemacht hat Manfred Mergel, ein schwäbischer Mundartpfarrer, der seit 2015 auf einer beweglichen Pfarrstelle in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg tätig ist.
“Mit zwei Frauen aus Dornstetten gebe ich im Laufe des März zum Jahrestag des Lockdowns dieses Manuskript einer Mitarbeiterin im Pflegheim pseudonym heraus“, hat er geschrieben. Auf dem Buchcover wird es genauer. Dort heißt es: Das Tagebuch gibt Einblick in den Alltag eines Seniorenheims. Zwölf Wochen im absoluten Ausnahmezustand.
»Pflege« – schon immer ein Stiefkind der Politik.
Plötzlich system-relevant und trotzdem Schlusslicht in der Bezahlung. Dieses Buch ist keine Abrechnung. Es gibt lediglich wieder, wie weit die Politik und auch die Kirchen von unserer alltäglichen Lebenswelt entfernt sind. Speziell die Senioren haben keine Lobby. Sie wurden entmündigt. – Das stimmt, sagen wir. Und weil die Medien im Mainstream es nicht für nötig hielten und halten, die Lebensrealität in den Seniorenheimen, vielleicht DEM Corona-Brennpunkt schlechthin, zu beschreiben, tun wir es hier mit dem folgenden Buchauszug, für dessen freundliche Überlassung wir uns bei Verlag und Herausgeber ganz herzlich bedanken. Die Zeitangaben beziehen sich auf das Jahr 2020. In der Sitzung des Krisenstabs am Montag, dem 30. März, entscheidet der Vorstand, dass der Träger eine Meldung in der örtlichen Presse bringt. Offensiv will man damit den Gerüchten begegnen.
Am Dienstag, dem 31. März, haben wir um 16:00 Uhr plötzlich drei positiv getestete Bewohner
Eine halbe Stunde, nachdem wir diese Information bekommen, ruft die erste Angehörige an und möchte ihre Mutter nach Hause holen. Nachdem wir ihr die Konsequenz aufgezeigt haben, dass sie ihre Mutter dann aber nicht mehr bringen kann, möchte sie sie doch dalassen. Wir fragen uns, wie sie so schnell an diese Information gelangen konnte? Um 21:38 Uhr kommt von der Einrichtungsleitung die Nachricht, dass unser Heim vom Gesundheitsamt unter Quarantäne gestellt wurde. Wir Mitarbeitenden stehen unter “erweiterter Quarantäne.“ Das heißt, wir dürfen nur noch zwischen Haus und Arbeitsstelle pendeln. Einkäufe sind untersagt.
Ein Aufschrei geht durch die Runde der Mitarbeiterinnen.
“Dann komme ich gar nicht mehr!“, oder: “Jetzt werden wir auch noch bestraft, dass wir hier arbeiten!“, sind noch die eher harmlosen Kommentare. Eine Kollegin spricht davon zu kündigen: “Das muss ich mir nicht länger geben!“ Auch ich habe damit ein Problem. Ich brauche den täglichen Spaziergang. Sonst bin ich in kürzester Zeit wieder da, wo ich nach meinen Bandscheibenvorfällen war. So geht es noch mehr Rückenkranken bei mir im Stift, und deshalb melden wir uns beim Gesundheitsamt und lassen uns bescheinigen, dass wir weiterhin wenigstens laufen dürfen. Leider wissen unsere Nachbarn und Bekannten sehr wohl, wo wir arbeiten, und wir stellen fest, dass wir plötzlich “unter Beobachtung“ stehen. Wir hören Kommentare wie: “Darfst du das Haus verlassen? Du arbeitest doch im Wichern-Stift?“ “Bist du nicht in Quarantäne?“, oder: “Stimmt es, dass ihr alle positiv getestet seid? Geh bloß weg!“
“Die haben alle Corona!“
Schlimmer trifft es noch die Angehörigen. “Nein, wir joggen nicht mit dir, deine Mama arbeitet im Altenheim, die haben alle Corona!“ Was sollen die Kinder darauf antworten? Was sollen sie am Telefon sagen, wenn jemand fragt, ob die Mutter auch infiziert ist?
Das hat der Vorstand mit einer offensiven Berichterstattung in der Presse erreicht. Ich verstehe, dass sie aktiv werden mussten. Sie verstehen jedoch nicht, dass sie uns Mitarbeitenden einen “Bärendienst“ damit erwiesen haben. Wir sind ab jetzt geächtet.
In der Presse hören und sehen wir Menschen, die der Pflege applaudieren und für uns singen. Eine Kollegin meint: “Wenn noch einer klatscht, dem klatsch ich eine! Das können sie sich in die Haare schmieren, diese Gutmenschen. Da hab ich nichts davon. Das zahlt meine Miete nicht und ich kann mir nichts dafür kaufen. Im Gegenteil, wenn sie hören, dass ich in der Pflege arbeite, dann gehen sie mir aus dem Weg. Ich könnte ja infiziert sein. So sieht ́s doch aus!“
Ein Mundschutz ist Pflicht, auch wenn nicht genügend vorhanden sind.
Zwei Mitarbeiterinnen drehen fast durch und wollen nicht mehr zur Arbeit erscheinen. Da wir jede Hand brauchen, telefonieren wir mit ihnen und unser Vorstand ruft zu einem seelsorgerlichen Gespräch bei den beiden an. Dadurch können die Wogen vorübergehend geglättet werden.
Im Obergeschoss müssen alle auf den Zimmern bleiben.
Die Schülerin (Jesus is my life!) meldet sich zu meinem Schock krank. Sie findet alle Ausreden und tatsächlich einen Arzt, der sie krankschreibt. Die FSJlerin hält jedoch die Stellung und sorgt in einer Liebe und Fürsorge für unsere Bewohner, die mir den größten Respekt abringt. Das Mädchen ist 16 Jahre alt! Es wird entschieden, dass im ersten Obergeschoss alle Bewohner auf ihren Zimmern bleiben müssen. Ungeachtet der Ergebnisse. Im zweiten Obergeschoss dürfen alle nach wie vor im Speisesaal zur Gruppenaktivierung. Die Betreuung muss ab jetzt einen Kasack tragen und darf nicht mehr in Privatkleidung arbeiten. Ein Mundschutz ist Pflicht. Auch wenn nicht genügend vorhanden sind. Wir müssen die Masken nach der Schicht in den Spind zum Trocknen hängen und am nächsten Tag wieder tragen.
Viele Bewohner weigern sich, den Test zu machen.
Am 1. April haben wir fünf positiv getestete Mitarbeiter. Nun müssen alle zum Corona-Test. Jetzt werden auch alle Bewohner getestet. Das Gesundheitsamt kommt umgehend ins Haus. Viele der Bewohner weigern sich, diesen Test machen zu lassen. Wissen sie doch überhaupt nicht, was mit ihnen passiert. Verstehen können sie das Ganze sowieso nicht. Sie sind eingesperrt und werden nun festgehalten und gewaltsam gezwungen, einen Abstrich auszuhalten. Es handelt sich schließlich um einen Rachen- und um einen Nasenabstrich, der sehr unangenehm ist.
Keinerlei Möglichkeit, an Schutzkleidung zu kommen
Die Mitarbeiter erfahren, dass die vorhandenen Masken nicht “Corona-tauglich“ sind, es aber keine anderen gibt. Das Gesundheitsamt schreibt bestimmte FFP2-Masken vor. Die sind aber vergriffen. Wir haben keinerlei Möglichkeit, an Schutzkleidung zu kommen. Unsere Einrichtungsleitung und die Hauswirtschaft telefonieren alle unsere Häuser ab, um von dort Schutzkleidung zu bekommen. Die geplanten Veranstaltungen für diese Woche – Besuch des Kindergartens und die Modenschau – sind definitiv abgesagt. Betreuung im ersten Obergeschoss ist nicht mehr möglich. Wir sind damit beschäftigt, die Bewohner in den Zimmern zu besuchen und dafür zu sorgen, dass sie genügend trinken. Viele haben kein Bedürfnis zu trinken. Ihnen fehlt die Animation durch die anderen Bewohner. Unsere Zeit in den einzelnen Zimmern ist begrenzt. Wir sind zu wenige Mitarbeiter.
Das war ihre letzte Begegnung
Der erste Bewohner ist verstorben. Ein 97-jähriger Mann, der vom Besuch seiner Tochter lebte. Diese durfte jetzt nicht mehr kommen. Das hat dem alten Mann das Herz gebrochen. Bis zum Schluss hat er gehofft, dass seine Tochter noch einmal zu Besuch kommt. Sie war da. Aber draußen vor der Balkontür, und er war drinnen im Bett. Sie haben sich zugewinkt. Das war ihre letzte Begegnung. Die Tochter kam jeden Tag und hat mit ihrem Vater zu Abend gegessen. Drei Jahre lang. Pünktlich um 17:30 Uhr war sie da. Jeden Tag. Als sie nicht mehr kommen durfte, war sein Lebensinhalt weg. Er war infiziert, ist aber definitiv an Einsamkeit gestorben. Als “Krönung“ kann nicht mal ein normaler Trauergottesdienst stattfinden, denn von der Regierung wurde beschlossen, dass Beerdigungen nur mit höchstens zehn Personen stattfinden dürfen. Die Angehörigen sind tieftraurig, dass sie sich von ihrem Vater so unwürdig verabschieden müssen. Zu diesem Beitrag hier passt der Artikel auf der Webseite in Südthüringen.de mit der Überschrift “Eine Altenpflegerin klagt an”, vom 22. März. Fast hat man dieser Tage den Eindruck, dass politisch unkorrekte Berichte beginnen, die Lokal- und Regionalpresse zu erreichen. Vieles lässt sich nicht mehr leugnen.