Von Kai Rebmann
Die Corona-Maßnahmen sollen wirkungsvoll und vor allem alternativlos gewesen sein. So lautet das seit inzwischen drei Jahren von Politik und weiten Teilen der Medien vorgetragene Mantra. Dass in den allermeisten Fällen inzwischen das Gegenteil bewiesen ist, wissen die dafür Verantwortlichen natürlich selbst. Dennoch muss das Narrativ so lange wie möglich aufrechterhalten werden, die Erkenntnis der Wahrheit – und vor allem die sich daraus ergebenden Folgen – wäre wohl zu bitter.
In der Schweiz wurden ganz ähnliche Maßnahmen ergriffen wie in den meisten anderen Ländern der westlichen Welt, wenn auch nicht mit ganz so rigoroser Konsequenz, wie es etwa in Deutschland der Fall war. Als oberster Pandemie-Papst der Eidgenossen fungierte dabei Patrick Mathys. Dieser ist im Bundesamt für Gesundheit (BAG) unter anderem Leiter der Sektion Krisenbewältigung und stellvertretender Leiter der Abteilung Übertragbare Krankheiten. Wenn man so will, ist Mathys also so etwas wie ein Schweizer Hybrid aus Lothar Wieler und Christian Drosten.
Die Schweiz war im Frühjahr 2022 eines der ersten Länder, das eine umfassende Aufarbeitung der Corona-Maßnahmen angekündigt hatte. Mit fast schon stoischer Gelassenheit wurde es in der eidgenössischen Medienlandschaft zur Kenntnis genommen, dass eben diese Evaluation unter die Aufsicht ausgerechnet jenes Patrick Mathys gestellt wurde, der für einen Großteil der Maßnahmen mit-, wenn nicht hauptverantwortlich gezeichnet hatte. Mit einem vergleichbaren Bauerntrick hatte sich auch die deutsche Bundesregierung mitsamt ihren handverlesenen Experten aus der Verantwortung zu stehlen versucht.
Der Schweizer HIV-Spezialist Pietro Vernazza war bis Sommer 2021 Chefarzt der Klinik für Infektiologie im Kantonsspital St. Gallen und betrieb jetzt im NZZ-Interview eine ganz eigene Aufarbeitung der Maßnahmen. Neben dem offenkundigen Interessenskonflikt im BAG sind dem
66-Jährigen vor allem die „Indiskretionen zwischen dem Bund und dem CEO von Ringier“ (reitschuster.de berichtete) ein Dorn im Auge. Anstatt der Evidenz sei die Angst die treibende Kraft während der Corona-Politik gewesen, so der Mediziner.
Dafür hat Vernazza eine zwar erschreckende, gleichwohl aber auch sehr plausible Erklärung. Wissenschaftler seien auf Forschungsgelder angewiesen und damit auch auf eine möglichst große Aufmerksamkeit der Medien. Diese sei unter anderem dadurch erreicht worden, dass allein in der Schweiz zwischen 30.000 und 100.000 Corona-Tote vorausgesagt wurden. Vor diesem Hintergrund sieht der Mediziner auch die Entscheidung des Bundesrates, bei der Besetzung seiner Task Force auf Wissenschaftler mit einer abweichenden Meinung verzichtet zu haben. Dabei brauche es gerade in einem solchen Gremium (wissenschaftliche) Diversität und ausdrücklich auch „Troublemaker“.
Vernazza liegt es jedoch fern, aus der Rolle des Besserwissers zu agieren, der hinterher schon vorher alles richtig gemacht hätte. Für ihn sei die kritische Überprüfung von Aussagen und Standpunkten der Kern der Wissenschaft. Diesen Maßstab legt der Schweizer auch bei sich selbst an und nennt dafür zwei Beispiele. So habe er die Schulschließungen im März 2020 zunächst noch als richtig erachtet, sich aber schon zwei Wochen später durch Daten aus China vom Gegenteil überzeugen lassen. Ebenso habe er die Impfkampagne „damals euphorisch begrüßt“ und entsprechende Aktionen in St. Gallen betreut. Heute räumt er ein, bezüglich der Zulassungsstudien zu blauäugig gewesen zu sein und gibt zu: „Gewisse Dinge haben wir Ärzte erst spät erfahren.“
Ebenso bescheinigt der Infektiologe der Maskenpflicht und dem Lockdown im Einzelhandel eine fehlende Evidenz. Die WHO habe schon im Jahr 2019 gesagt: „Masken in der allgemeinen Bevölkerung sind zurückhaltend und nur punktuell zu empfehlen.“ Diesen Standpunkt sieht Vernazza inzwischen durch mehrere Studien belegt, eine Empfehlung zum Maskentragen oder gar eine Maskenpflicht sei hingegen nie zu rechtfertigen gewesen.
Der Arzt gibt sich aber keineswegs damit zufrieden, die Maßnahmen im Nachgang zu zerlegen, er zeigt auch Alternativen auf. Zahlreiche vielversprechende Ansätze seien aber von vorneherein verworfen bzw. gar nicht erst untersucht worden. Als Beispiel nennt Vernazza das „Wunder von Elgg“ in einem Zürcher Pflegeheim. Nahezu alle Bewohner hätten sich mit Corona infiziert. Keiner von ihnen sei zu Schaden gekommen, keiner sei gestorben. Allen Senioren sei regelmäßig Vitamin D verabreicht worden. Dies sei „billig, einfach einzunehmen und gut verträglich“, trotzdem habe es keine Empfehlung zur präventiven Einnahme gegeben, wie der Experte bedauert.
Vernazza räumt auf Nachfrage ein, dass es auch dazu nur wenig Evidenz gegeben habe, dennoch sei es lange bekannt, dass Vitamin D für die angeborene Immunabwehr von Bedeutung ist. Er behandle seine Tuberkulose-, Hepatitis- und HIV-Patienten schon seit Jahren damit. Warum diese Alternative nicht weiterverfolgt wurde, liegt für den St. Galler auf der Hand: „Wer ist interessiert, ein billiges Mittel in einer Studie zu untersuchen?“
Dieselbe Ablehnung schlug aus ganz ähnlichen Gründen auch den sogenannten „inhalativen Steroiden“ entgegen. Dabei habe man bereits im Jahr 2020 beobachten können, dass chronisch Lungenkranke, die damit behandelt worden sind, deutlich seltener wegen (!) Corona ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten. Eine Studie des St. Galler Forschers Lukas Flatz habe die positive Wirkung von inhalativen Steroiden zudem bestätigt. Stattdessen habe sogar der Hersteller eines entsprechenden Nasensprays vom Einsatz abgeraten, da lieber – man ahnt es – auf andere Behandlungen gesetzt wurde, „die um einiges teurer waren“, so Vernazza.
Als einziges Kriterium für wie auch immer geartete Maßnahmen lässt der Experte zu, diese müssten nachweislich dazu geeignet sein, „eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern.“ Und selbst müssten diese zeitlich eng begrenzt sein und dürften nicht „über Monate fortgesetzt werden.“ Vor diesem Hintergrund sei allenfalls das Verbot von Massenveranstaltungen zu rechtfertigen gewesen, glaubt der Mediziner.
Bei neuen Medikamenten sei grundsätzlich eine gewisse Zurückhaltung geboten, weshalb er es schwierig fand, „an die Solidarität zu appellieren, bei einem Impfstoff, den man kaum kennt“, so Vernazza. Auch die Übersterblichkeit und der extreme Geburtenrückgang seit Beginn der Impfkampagne sind dem Schweizer nicht entgangen. In diesem Zusammenhang geht er besonders mit jenen Experten hart ins Gericht, die im vergangenen Jahr getönt haben: „Wir wissen nicht, woher die Übersterblichkeit rührt, aber wir wissen: Sie rührt mit Sicherheit nicht von der Impfung.“ Das sei unseriös, zumal er ähnlich lautende Aussagen auch zum Geburtenrückgang schon gehört habe. Im Jahr 2022 lag der „Baby-Gap“ zwischen 10 und 15 Prozent, was es laut Aussage des St. Gallers noch nie gegeben habe.
Rückblickend bedauert es Vernazza vor allem, sich nicht schon frühzeitiger und vehementer für die Behandlung mit Vitamin D und inhalativen Steroiden eingesetzt zu haben. Es steht aber wohl zu befürchten, der Mediziner hätte sich auf den Kopf stellen können, denn: Wo kein Wille ist, da ist auch kein Weg. Ein Medikament kann noch so wirkungsvoll sein – wenn es keinen Profit verspricht, werden die Pharmaindustrie und ihre Lobbyisten in Politik und Medien einen weiten Bogen darum machen.