Schaf

Eben habe ich ein Schaf in der Gasse blöken gehört. Ein gurgelndes Blöken auf Ö. Ein Schaf mitten in Tarlabaşı – oder der unsichtbare Mann, der jeden Abend zur Dämmerung monströse Laute von sich gibt, verlegt sich neuerdings zur Mittagssonne auf Tierstimmen. In der Gasse ist weit und breit kein Schaf zu sehen. Das Blöken klingt, als stamme es aus einem Kofferraum, gedämpft, dann wieder markerschütternd nah, als riefe das Schaf direkt unter meinem Fenster durch ein Megafon seine unverbrüchliche Wildheit und Freiheit aus. Ich werde meine Arbeit unterbrechen und hinuntergehen müssen und nachschauen, was es mit diesem Schaf auf sich hat.

Stan Lafleur - Schaf

Zeichnung: Rolf Hannes

Mittlerweile habe ich dem Blöken eine geschlagene Viertelstunde gelauscht. Es erklingt in nicht ganz sauberen Intervallen etwa alle zehn Sekunden. Es zermürbt. An meine Arbeit, ein Artikel über die Häufigkeit und das Verhalten der Möwen in Istanbul, ist nicht mehr zu denken. Ich bin mir fast sicher, daß sich das Schaf (oder der unsichtbare Mann) in Frau Aytekins Wohnung gegenüber befindet, weil das Blöken lauter oder leiser klingt, je nachdem, ob Frau Aytekin ihre Fenster, an denen sie sich ständig zu schaffen macht, lehnt, kippt, zuschlägt oder wieder aufreißt. Frau Aytekin, die nie zurückgrüßt. Ärgerlich, daß mein Türkisch nicht ausreicht um zu verstehen, was die Männer an der Ecke neulich wirklich gesagt hatten. Über Frau Aytekin (“Ja, die mit dem immerbeigen Kopftuch!”) hatten sie gesprochen, und (darin mag ich mich täuschen) von einem Hammel, mit dem sie sich herumzuschlagen habe.

Ich bin nicht hinuntergegangen. Das Blöken des Schafes wurde nach einer halben Stunde immer jämmerlicher. Frau Aytekin gab in ihrer Wohnung ein paar seltsame Laute von sich, die ich nicht mit der türkischen Sprache zusammenbringen konnte. Schließlich verstummte, kurz nach Frau Aytekin, auch das Schaf. Mehr noch. In der Gasse herrschte erstmals seit ich dort eingezogen bin völlige Ruhe. Eine Ruhe, deren Sinn mir nicht aufging. Selbst der Mann, der jeden Nachmittag zuverlässig in Zuckersirup getränktes Spritzgebäck ausruft, das er aus seinem Handkarren verkauft, tauchte heute nicht auf. Mir war ganz eigenartig zumute, wie nach einem unvermuteten Trauerfall. Den Artikel über die Möwen legte ich beiseite und trank Tee, bis endlich, zur Dämmerung, wieder dieses monströse Jaulen und Heulen aus den Tiefen der Gasse zu hören war, das, wie die Männer an der Ecke, falls ich sie richtig verstand, erzählten, vom frommsten Mann des ganzen Viertels rühren soll, ein Mann, der nach vielen Jahren gottgefälligen Lebens das Sprechen verlernt habe und von Ungläubigen nicht mehr gesehen werden kann.

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