Nicht Aiwanger, Söder müsste zurücktreten.
Von Vera Lengsfeld
Der 29. August war eine Art historischer Tag. Die Berliner Staatsanwaltschaft gab bekannt, die Ermittlungen gegen den Rammstein-Sänger Till Lindemann einzustellen. Monatelang hatten die Medien eine Hetzkampagne gegen Lindemann betrieben und dabei nicht nur alle journalistischen Standards verletzt, sondern auch rechtsstaatliche Normen außer Kraft gesetzt. Zwar wurde am Ende der denunziatorischen Artikel meist hinzugesetzt, die Unschuldsvermutung gelte auch für Lindemann, nachdem im Text alles dafür getan wurde, ihn als schuldig hinzustellen. Immer wieder wurden „Vorwürfe von zahlreichen Frauen“ angeführt. Schließlich wurde triumphierend mitgeteilt, die Berliner Staatsanwaltschaft würde ermitteln. Ich gehörte zu denen, die damals auf den Zusatz „von Amts wegen“ hinwiesen, der den Verdacht nahelegte, es habe Anzeigen von Betroffenen nicht gegeben. Tatsächlich wurde in der Presseveröffentlichung der Staatsanwaltschaft eingeräumt, es habe sich um Anzeigen unbeteiligter Dritter gehandelt, mit denen man sich beschäftigen musste. Da liegt die Schlussfolgerung nahe, die Verdachtsberichterstattung hat dazu animiert, Anzeigen zu verfassen. Ich befürchte, man wartet vergeblich darauf, dass sich die an der Hetzjagd beteiligten Medien entschuldigen und Besserung geloben.
Schließlich haben sie die Kampagne gestartet, nachdem weder die litauische Polizei noch die dortige Staatsanwaltschaft Ermittlungen eingeleitet haben, nach dem Auftritt der Nordirin, die mit der Behauptung, sie wäre bei einer Party von Rammstein möglicherweise unter Drogen gesetzt worden, den Startschuss für die Hetze gab. Im Gegenteil, während die Mitteilung der Berliner Staatsanwaltschaft über den Ticker lief, erlebte die Kampagne gegen das nächste Hetzjagd-Opfer Hubert Aiwanger einen nächsten Höhepunkt. Obwohl die SZ die Kampagne einer unbewiesenen Behauptung, Aiwanger sei der Verfasser eines mehr als dreißig Jahre alten Flugblatts, und sich als Kronzeugen eines Lehrers bediente, der unter Verletzung seiner Verschwiegenheitspflicht dieses Blatt illegal der Zeitung zur Verfügung stellte. Warum sind gegen diesen Lehrer noch keine dienstrechtlichen Konsequenzen vom bayrischen Kultusminister eingeleitet worden? Warum wird so ein eklatanter öffentlicher Verstoß gegen die Dienstpflichten stillschweigend hingenommen? Wenn sich Schüler nicht mehr auf die Verschwiegenheitspflicht ihrer Pädagogen verlassen können, woher soll noch das Vertrauen in das Lehrpersonal kommen?
Stattdessen läuft die Kampagne auf Hochtouren weiter. Nach dem fehlgeschlagenen Versuch, Till Lindemann mit allen Mitteln zu Fall zu bringen, will man offensichtlich endlich einen Erfolg.
Was diese Kampagne aber noch besorgniserregender macht, sie wird von Ministerpräsident Markus Söder benutzt, um sich eines politischen Konkurrenten zu entledigen.
Söder hat sich am vergangenen Montag bei einem Wahlkampfauftritt in einem Landshuter Bierzelt an die Spitze der Kampagne gestellt, indem er seinen Vize mit einer Stimme, die viele Beobachter als Hitlerimitat empfanden, als „politischen Winzling“ hinstellte, den er desto kleiner macht, je näher er ihm kommt. Das ist von einer solch menschlichen Niedertracht, man kann nur hoffen, die bayrischen Wähler machen deutlich, was sie davon halten. Söder, der bei den Umfragen um die 38 Prozent herumkrabbelt, will die Bayernwahl als Beleg für seine Kanzlerwürdigkeit gewinnen. Er hofft offensichtlich, ihm würden Stimmen der Freien Wähler zufallen, wenn Aiwanger stürzt. Neben seiner verbalen Attacke versucht Söder auch, einen Keil zwischen Aiwanger und die Freien Wähler zu treiben, indem er laut überlegt, die Koalition nach der Wahl auch ohne Aiwanger mit den FW fortzusetzen.
Mit diesen Manövern hat sich Söder aber selbst ein Bein gestellt. Nach seinem unappetitlichen Wahlkampfauftritt von Montagabend konnte er seinen Vize nicht mehr feuern, ohne zu riskieren, bei der Wahl dafür abgestraft zu werden. Also hielt er am Dienstag beim Koalitionsausschuss an ihm fest und stellte Aiwanger lediglich 25 Fragen. Wie die aussehen, wüsste man gern, denn der Möchtegern-Kanzler musste ja eingestehen, von der SZ gab es bisher keinen Beweis für ihre Behauptungen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, es sind wohl Fangfragen, die den ersehnten Grund für die Abservierung Aiwangers liefern sollen.
Es ist die Außerkraftsetzung des rechtsstaatlichen Prinzips: der Angeklagte ist unschuldig, bis seine Schuld bewiesen wurde. Die SZ muss Aiwangers Schuld beweisen, nicht er seine Unschuld.
Söder kommt damit durch, weil die Medien sich auf die Vernichtung Aiwangers fokussiert haben und sie in Söder offenbar einen momentanen Verbündeten sehen. Nicht das mehr als dreißig Jahre alte Flugblatt eines unbedarften, ausfälligen Jugendlichen ist eine Gefahr für das Ansehen Bayerns, sondern ein Ministerpräsident, der rechtsstaatliche Prinzipien missachtet.
In einer Demokratie, die diesen Namen verdient, müsste Söder zurücktreten.