13. Juni Endlich Regen. Es regnet auf den Bahnsteig Erinnerungen an persönliche Regenmythen und die des Kinos. Der Tag schmeckt wie vergangene schöne Tage. Ich schneide Scheiben aus meinem Leben und erlebe einen Zeitsprungschauer. Ein Personenzug fährt vorbei und die Sehnsucht zu reisen. Flaches grünes Land unter grauem Himmel hinter dem Abteilfenster. Von roten Giebeln strömt Wasser und versickert in der Erde. Schönhauser Allee, Ausstieg links, der Zug endet her.
21. Juni Wer zuerst verletzt wird, hat gewonnen. Um nicht mitmachen zu müssen, brauchst du ein Attest. Zum Beispiel für Epilepsie, Depression, Paranoia, Drogensucht, Arthrose oder Inkontinenz. Sozialpädagogen verkapseln dich bis zur Rente. Verwundung ist mein Ausweg. Heimatschuss. Ich stehe an einer Schandmauer mit Ess- und Sehgestörten, Amputierten, Verweigerern und andern Unbelehrbaren. Noch am Leben, aber nicht mehr da.
27. Juni Wenn ich gegangen bin, wirst du den Abdruck, den das Gesäß auf dem schwarz spiegelnden Steinwayflügel im Wohnzimmer deiner Eltern hinterlassen hat, wegpolieren. (Sie achtet darauf, dass ihre Stiefel nicht den schwarzen Lack verletzen.) Jeder hat seinen Job, und das trennt. Versuch bitte nie, meine Welt aufzuräumen. Chaos ist ein gutes Versteck.
28. Juni Die Zeichen häufen sich. Es begann, als ich beim Putzen unter Bett 6 eine verdeckte Spielkarte finde. Joker. Gestern hat mir ein Vogel auf den Kopf geschissen und eben kollidierten zwei Motorräder knapp hinter mir und dem Zebrastreifen. Was soll ich daraus lernen. Soll ich Spieler, Tierpfleger oder Rettungssanitäter werden. Oder steckt doch mehr dahinter. Ich warte auf weitere Zeichen. Hostel Schönhauser Allee. Appartement zwei ist mein Arbeitsplatz an einer Wegkreuzung der Globalisierung. In Betten entsorge ich Spuren der Nacht, vernichte Beweismaterial für Glück, Unglück, Haarausfall, Schuppenflechte. Ich impfe mich mit allen Viren der Welt, ersinne Lebensläufe an Hand von in den Zimmern zurückgelassenen Indizien. Den Satz, ICHNEHMEDENMÜLLRAUS, kann ich in vier Sprachen. Bist du eine Rockband, entsorgen wir die Fernseher, die du aus dem Fenster wirfst, die Drogentoten, die du im Hotelzimmer zurück lässt, und auch dich. Bist du Herrscher der Welt, kümmern wir uns um den Rest. Die Pillenpackungen, die Papierbriefchen, das Blut aus Deiner Nase am Waschbeckenrand. Wir sind das Putzteam.
Grafik: Friedel Kantaut
29. Juni Wir essen blattvergoldete Currywürste und trinken dazu Champagner aus Plastikkelchen auf einem Ökomarkt. Hundertschaften von Fernsehköchen kochen, die Nation kostet. Kosten und Kotzen. Weil wir nicht mehr hungrig sind, sind wir traurig. Wir brauchen Ernährungsberater, Mangelersetzer, esoterische Navigationsgeräte, Partnerschaftsundkrisenerklärer, Schicksalsmaschinen, Zielvorgaben, Bewusstseinsprothesen. Ernährung ohne Sättigung, Partner ohne Nähe, Krisen ohne Möglichkeit, Leben ohne dabei zu sein, Rotation ohne Fliehkraft. Wenn sich alle Berater an goldenen Currywürsten überfressen haben, suchen sie im Netz Beraterberater.
30. Juni Wenn unsere Kugel zur Scheibe wird, wird sie endlich. Zur Feier unserer Gegenwart richten wir auf der Kuchenplatte Erde eine Buttercremetorte an. Durch immer neue Marzipanaufbauten verdichtet sich der feuchtzuckrige Untergrund. Pilze, Mikroben, kleine Würmer fressen sich nach oben. Farbiger Zuckerguss, der die Oberfläche stabilisieren sollte, rinnt über die Ränder der Scheibe in den Weltraum. Erste Risse zeigen sich in der obersten Schicht, Zuckerplatten reiben aneinander. Ein verdorbener Kuchen kann die ganze Bäckerei ruinieren. Meine Aufgabe ist, die Scheibe im Gleichgewicht zu halten. Kommt sie in eine Schräglage, rutsche ich über die Kante. Ich sitze auf einem Barhocker im Zentrum dieser Scheibe und fülle mit vorsichtigen Bewegungen das weiße Gleichgewichtspulver in die Waagschalen meiner Welt. Plötzlich stemmst du dich über den Rand auf meine unsichere Plattform. Der Horizont kippt. Ich weiche auf die gegenüberliegende Seite der Plattform aus um die Balance zu halten.
1. Juli Mein Team ist komplett. Lucy optimiert die Wirklichkeit. Leider glaubt sie sich zu oft selber. Parzival ist unser Gesicht. Er lenkt ab und täuscht. Er kann dir die Welt verkaufen, besitzt sie leider nicht. René ist der Anwalt. Er betrachtet das, was wir einander antun, mit der Distanz eines erwachenden Androiden, der davon träumte, ein Mensch zu sein. Greta ist unser digitales Hirn. Leider stürzt sie öfter ab als ihr Rechner. Wenn wir überhaupt nicht weiter kommen, suchen wir Steuben, das Orakel auf. Niemand weiß, wie alt er ist. Wir warten auf seine Sätze, die er ausspuckt. Wir könnten auch mit Knochen würfeln, aber so hat er einen Job.