5. Dezember Ich bin der Spiegel der bösen Königin und träume heimlich von Schneewittchen. Morgens auf dem Bahnsteig beobachte ich das in meinem Revier auf die Bahn wartende Wild. Beim Aufundabgehn am Gleisrand schätze ich Alter, Schlachtgewicht und erwäge den zu erwartenden Widerstand. Meine nächste Beute soll perfekt sein. Ein Schneewittchen, dem ich die Zukunft als verbitterte Königin erspare. Ein schnelles Nein statt ein endloses Vielleicht. Ich schenke ihr die Gnade, ihre Verwesung nicht miterleben zu müssen und erspare ihrer Kosmetikerin viel Arbeit.
11. Dezember Endlich bin ich auf dem Rückweg in meine Höhle. Ich entferne mich Kilometer für Kilometer von den Schmerzen meiner Mutter. Kann sein, dass sie mich unter Schmerzen geboren hat, aber das ist längst verjährt. Was geht mich ihre Arthrose, ihr Kniegelenk oder das an, was ihr Hausarzt sagt. Falls es einen Gott gibt, sollte sie das Gebet nutzen, um bei ihm den Pfusch in seiner Schöpfung zu reklamieren.
In der Bahn nach Berlin sitzt auf der anderen Seite des Gangs eine junge Frau im dunkelgrünen Pullover, schwarzer Strickjacke und Strickschal. Ihre derben Schuhe hat sie ausgezogen. Ihre Füße in geringelten Stricksocken liegen auf dem Sitz gegenüber. Sie strickt. Ihr konzentrierter Ausdruck, das Klappern der Nadeln sind so beruhigend, dass ich erwäge, sie anzusprechen und zu fragen, ob sie nicht von Zeit zu Zeit bei mir vorbeikommen könnte, sich einfach in den Sessel setzen, um einige Stunden zu stricken, und dann wieder zu gehen. Natürlich gegen Honorar. Das wäre wie ein Kaminfeuer oder ein Aquarium. Dazu übt die nackte Cellistin.
Foto: Friedel Kantaut
Später auf dem Bahnsteig muss ich den Lärm von zu vielen Rollkoffern aushalten. Nur damit Millionen Reisende diesen unrhythmischen Krach auf Plastikrollen hinter sich herschleifen können, musste Gott nicht den Menschen und der Mensch nicht das Rad erfinden.
13. Dezember Es wird immer enger in meiner Wohnung. Mein Rechner bietet mir etwas zum Abballern an. Erst zerstäube ich weiße Hähne zu Federexplosionen. Dann schieße ich auf Weihnachtsmänner, die, wenn ich sie treffe, zum Horizont taumeln. Warum können sie nicht spektakulär zerplatzen. Dann klebten ihr Blut und ihre Eingeweide an der Bildschirminnenseite, und ich müsste das Windowslogo nie wieder sehen.
14. Dezember Als das Telefon klingelt, lerne ich gerade, übers Wasser zu gehen. Ich muss nur schneller als schwer sein. Das Geräusch bremst mich, und ich versinke. Strampelnd bemühe ich mich an der Oberfläche zu bleiben und atme Wasser. Ich versuche das Telefon zu überhören. Endlich entspanne ich mich, tauche auf und wandere auf Wasser. Unter mir, Seeminen und Raubfische, die nach meinen Beinen schnappen, Strömungen und Unterseeboote. Auf der Flucht und auf dem Wasser ist Geschwindigkeit die Lösung. Das Telefon klingelt weiter.
Hier findet das Tagebuch von Richard Fach ein vorläufiges Ende.