1. Oktober Herzfelde Uckermark. Zweihundertfünfzig Einwohner leben um eine restaurierte Dorfkirche aus dem 12. Jahrhundert herum. Wenn man die Sommerfrischler aus Berlin nicht mitrechnet, befinde ich mich in einem Altersheim mit Katzen und Hühnern. Der Wind bläst kalt aus Osten. Besser der Wind als der Russe. Keine Werbeplakate in deren Schutz man sich eine Zigarette anzünden kann. Keine verkehrsberuhigte Zone, kein Verkehr, keine Kinder, nur Zielgruppen für Athrosemedikamente und Inkontinenzwindeln. Vor drei Jahren hat der kleine Laden geschlossen. Der Händler hat sich zwischen seine Waren an die Decke gehängt. Norddeutsche Schwermut, Kundenmangel oder beides.
2. Oktober Nachts im Spätkauf. Vor mir an der Kasse steht ein Insichversteckter, legt drei Flachmänner auf die Ladentheke, durchsucht hektisch seine Taschen nach Münzgeld, wirft eine Handvoll neben die Kasse und zählt mit zittrigen Fingern den passenden Betrag ab. Klirrend fallen die Flaschen in seine Umhängetasche. Er dreht sich mechanisch zur Tür, krächzt: Schönen Abend. Ist weg. Die Anweisungen bekam er in seiner Wohnung. Der Alkohol ist alle. Hol neuen. Verhalt Dich unauffällig. Vergiss nicht, in welcher Tasche Dein Geld ist. Schau niemanden an. Verabschiede Dich, und komm schnell zurück, Dein Sofa.
Zeichnung: Friedel Kantaut
6. Oktober Nachmittag in der Schönhauser Allee. Ein auf der Straße Lebender mit Punkattitüde ist überdosiert zusammengebrochen. Er liegt im rechten Glaswinkel einer Bushaltestelle, zusammengefaltet wie ein weggeworfener Teppich. Die Kumpels, mit denen er täglich vor dem Supermarkt schnorrt, sind nirgends zu sehen. Das ist der große Tag seines Hunds. Mit gesträubtem Nackenfell steht er vor seinem Lieblingsteppich und hält die Ersthelfer, Feuerwehr, Notarzt und Polizei auf Distanz, verteidigt seinen Herrn gegen die drohende Erste Hilfe.
10. Oktober Gestern Nacht habe ich von Bühnenarbeitern geträumt und über Traversen nachgedacht, Brückenverbindungen, an denen Technik hängt. Das Wort Traverse wird immer abstrakter. Trotz meiner Müdigkeit versuche ich, die Wirklichkeit des Worts zurückzuerobern. Langsam sacke ich zurück ins Dunkel. Das ist meine Annäherung an das Schafezählen. Kurz vor dem Einschlafen höre ich eine Stimme: Ja toll. Ich schrecke hoch. Meine Füße sind unter der Decke in Sicherheit. Eine optische Krümmung verzerrt mein Bücherregal. ES ist immer noch da. Ich habe ES in letzter Zeit kaum wahrgenommen und jetzt sagt ES: Ja toll.
Fortsetzung folgt.