Benares
In Benares angekommen, gerate ich in einen kleinen verwinkelten Innenhof am Ende einer holprigen Gasse, er ist ihr natürlicher Abschluß. Seit Jahren trage ich keine Uhr mehr am Armgelenk und ich führe auch keinerlei Landkarten auf meiner Reise mit mir. In einen milchigweißen Himmel schauend empfinde ich meine Zeit- und Ortlosigkeit wie ein köstliches Geschenk. Ohne sie zu messen und zu bestimmen, fühle ich mich in die Stunden und Orte aufgehoben.
Inmitten des hufeisenförmigen Hofs steht ein mächtiger Baum, dessen Äste sind arg beschnitten und gestutzt, die umstehenden Häuser (eher Häuschen) müssen sich seines Wachstums erwehren. Vor Sekunden noch war ich umgeben von schlendernden, hastenden, schlurfenden, sitzenden, liegenden Menschen, nun sitze ich allein an einen mächtigen Baumstamm gelehnt, meine Schlafdecke als Polster unter mir. Um mich herum besänftigende Kühle und Stille. Aus meiner Reisetasche (sie sollte mal einem ungarischen Jäger als Jagdtasche dienen) fingere ich einen Zettel, darauf steht in Druckbuchstaben, in solchen, mit denen wir als Kinder Erste Druckerei spielten:
Diese Adresse hatte mir der Händler in der Muttonstreet in Bombay zugesteckt. Er hatte gesagt: Nur wenige kriegen von mir diese Auskunft. Wenn Sie hinkommen, grüßen Sie Ashant von mir. Er wird Ihnen die Stadt zeigen. Er wird Sie wie einen Freund beherbergen.
Khanda, das Symbol der Sikhs
Mit dieser Gewißheit schlief ich an den Baumstamm gelehnt für einige Minuten ein. Dann steht ein Mann vor mir, er hat mich nicht geweckt, es ist einfach seine Gegenwart, die mich aufwachen läßt. Er hat ein edles schönes Gesicht, umschlungen und bekrönt von einem kunstvoll angelegten leuchtend roten Turban. Er ist ein Sikh. Ich kenne sie aus dem Stadtbild Bombays, nähere Begegnung hatte ich nie. Dieser Mann schaut mich ernst und freundlich an. Ich weiß mir nichts besseres, als ihm mein Papierchen hinzuhalten. Ich sage: Where can I find this street? Der Sikh betrachtet das Zettelchen, lächelt ein wenig, schaut mich wieder ernst und freundlich an, und so stehen wir uns eine Weile schweigend gegenüber. Unvermittelt klatscht er in die Hände: es erscheint ein etwa 10jähriger Bub, das ist sein Sohn, denke ich, er trägt seinen Haarschopf geflochten wie ein Töpfchen auf dem Kopf mit einem weißen Band darum. Mit seinem Sohn bespricht der Vater, worum es geht, reicht mir das Zettelchen zurück und macht wie ein vollendeter gentleman eine leichte Verbeugung zu mir hin, und ich versuche, sie ähnlich vollendet zu erwidern. Der junge Sikh ist für die nächste Stunde (oder sind es zwei?) mein hingebungsvoller Führer.