In einem indischen Zug fürs einfache Volk sind alle Gerüche, alle Farben, alle Stimmungen geboten. Ein Zugabteil wird für einige Zeit eine Lebensgemeinschaft. Das einfache indische Volk mag das gar nicht so bemerken, es lebt ja wo es geht und steht stets in Tuchfühlung mit seinem Nachbarn. Diese lebensabgewandte Distanz, die uns Europäern eigen ist, mehr oder weniger, kennen sie nicht. Und wenn sie dich wahrnehmen als solchen, dann betrachten sie dich wie etwas merkwürdiges Anderes, mit einer gewissen Scheu, aber auch mit einem einfühlsamen Wohlwollen. Sie möchten sich befreunden mit dir. Sie haben viel weniger Ballast in ihrem Herzen, sie haben viel weniger Grübeleien in ihren Köpfen als unsereins. Sie filtern nicht fortwährend ihre Gedanken und Gesten, ob sie nun richtig oder passend genug sind, geäußert zu werden.
Ein armer Inder, der einen Zug besteigt, weiß sich in eine angenehmere Welt versetzt. Er muß eine weite Strecke nicht zufuß zurücklegen. Er wird gefahren, er nimmt Anteil an etwas Besonderem, er wird etwas Besonderes. Er weiß: Millionen ländlicher Inder betreten nie einen Zug, weil sie zu arm sind, weil sie einer Welt angehören der nackten Füße und der Karren, von geduldigen, langsam schreitenden Ochsen (Büffeln) gezogen. (Die schönsten Köpfe, die schönsten eindrucksvollsten Gesichter, ja, es sind Antlitze, habe ich weit weg von jeder Busstation, weit weg von jeglicher Stadtlandschaft angetroffen.)
Ein unverbildeter Inder wähnt sich, wenn er einen Zug besteigt, auf einer kleinen Bühne. Es braucht gar nicht sein Zutun, er ist auf einer Bühne, die ihn auffordert, seinen Part zu spielen. Es ist ein Stegreifspiel. Und jenachdem wie er seinen Part spielt, haben die Götter (und seine Mitspieler) Wohlgefallen an ihm. So steht es in der Bhagawad-Gita, sie ist die Anweisung fürs Leben. Gelesen kaum, aber die Geschichten erzählt bekommen, hat fast jeder in Indien. Er oder sie möchten sich also ihren Mitreisenden zeigen, betrübt oder beschwingt.
Als es auf die erste Nacht zuging (ich hatte ja noch eine zweite vor mir), erspähte ich auf einem Bahnsteig, wo der Zug eine gemächliche Rast einlegte, einen Teppichverkäufer. Er hatte auch einige Decken dabei, einfache wollene Schafsdecken, nahm ich an. Gleichzeitig hatte ich die Überlegung, also seit einigen Minuten ging folgendes durch meinen Kopf: ich möchte mich für die Nacht ins Gepäckgestell über mir legen, wenn es mir gelingt, bei abrückendem Gepäck Platz zu ergattern. Dafür bräuchte ich aber eine Decke oder was Ähnliches, etwas zum Abpolstern des harten Gestells, vielleicht dürfte ich einige weiche Gepäckbündel meiner Mitreisenden dazunehmen. Ein Bahnsteig im Osten ist ein kleiner Basar: Ich war dabei, mir einiges zum Essen zu besorgen. Dann stand ich kauend vor dem Teppichhändler. Er ließ sogar mit sich feilschen, in dieser Umgebung war ich für ihn ein halber Orientale. Wir wurden uns bald einig, und frohgemut strebte ich in mein Abteil zurück. Ich kam zu spät, der Liegeplatz über meiner Bank war bereits belegt. Und wie ich so mit meiner geschulterten Decke vor dem, das heißt, unter dem neuen Passagier (oder hatte er sich aus einem angrenzenden Abteil eingeschlichen?) stand, hatte er ein Einsehn mit meiner Stutzigkeit. Er forderte mich auf, es neben ihm zu versuchen, ich dankte (außen freundlich, innerlich enttäuscht), knüllte aber meine Decke vorsorglich schon mal in die Ecke über meinem Sitz. Don‘t worry, sagte der Inder. Place enough. Seine Fußsohlen waren sehr sauber, fast gepflegt. Later, sagte ich. Der Zug fuhr durch die Nacht, ich hatte Mühe, mich nicht zu ärgern, denn um wie viel bequemer hätte ich mir meinen Ecksitz mit meiner neuen Decke einrichten können. Im Morgengrauen krabbelte der Inder aus seinem oberen Versteck, hatte bald seine Habseligkeiten bei der Hand. Zum guten Ende half er mir nach oben zu meiner Decke. Hatten die Götter nun Wohlgefallen an mir? Es kündigte sich ein Bahnhof an.