Nächte in Bombay
Ich hatte mir angewöhnt, häufiger tagsüber zu schlafen als nachts, denn die Stadt war in der drückenden Hitze des Tags kaum zu ertragen. Bei einem meiner abendlichen Streifzüge traf ich auf Dean. Er ist ein Verstörter, wenn nicht Wahnsinniger dieser Stadt. Er spricht einigermaßen Englisch und erklärte mir, warum er sich Dean nennt, er schaue Dean Martin ähnlich. Das ist mein Trick, sagt er, Reisende auf mich aufmerksam zu machen. Es ist verblüffend, er könnte wirklich als Double für Dean Martin durchgehn. Alle paar Stunden kippt er ein teuflisches Getränk in sich hinein, für Geld, das er schnorrt, wie er freimütig bekennt.
Es gibt das Bombay des Tourismus, ganze Stadtteile prächtiger Häuser und Hotels. Es gibt das herzeigbare Bombay zur offenen See hin mit Villen und weitläufigen Parks. Es gibt breite Prachtstraßen, wie sie in jeder westlichen Metropole zu finden sind. Aber Deans Bombay ist das Bombay der Armen, der Obdachlosen, der kleinen Handwerker und Tagelöhner, der hinter Eisenstangen eingepferchten Prostituierten. Dieses Bombay ist nächtens ein fiebriger Traum. Du läufst durch diesen Traum, bist Träumer und Geträumtes in einem. Du reibst deine Schläfen, um diesen nachtmarigen Traum loszuwerden, wenigstens zu mildern, er bleibt. Viele gehen hier niemals wirklich schlafen, sagt Dean. Jeder für sich sackt hier irgendwann zusammen und schläft seinen kleinen Tod, sitzend, hockend, hängend, schwer atmend, röchelnd, auf notdürftigem Lager, in einer Ecke zwischen Müll, auf einer baufälligen Stiege eines schon entkernten Hauses, das demnächst ganz abgerissen wird.
Thanka
Nächtelang trabten wir gemeinsam durch diesen Fiebertraum. Einmal durchwanderten wir eine halbe Nacht lang ein einziges vielstöckiges Haus. Wahrscheinlich war es ein Bordell, aber für meine Augen ein sehr seltsames, sehr faszinierendes. Überall hockten Musiker auf dem Boden in von Gegenständen fast leeren Räumen. In kleineren oder größeren Gruppen spielten sie auf ihren indischen Instrumenten, mal sentimental dieses süße träufelnde Gift, mal wild und durchgedreht wie Teufel. Wir hockten uns dazu und ich merkte, es ist üblich, den Musikern von Zeit zu Zeit einen Geldschein zuzustecken. Das bringt sie dazu, alles aus sich herauszuholen, sich in noch größere Raserei zu steigern. In den Zimmern, in denen kaum Möbel standen, hin und wieder mal ein Tischlein oder ein kleiner Schrank, verteilten sich Menschen wie auf einer Theaterbühne. In Muße schlenderten sie, standen zusammen, gruppierten sich neu, hockten sich auf den Boden, Junge und Alte, Bessergekleidete und farbig Zerlumpte, Gestrandete und Erfolgreiche. Es gab nur wenige Türen im Haus, also ergab sich ein Kommen und Gehen in allen Stockwerken wie in einer großen Wabe. Die Frauen waren allesamt so schön, daß ich sie für himmlische Wesen hielt. Meine Augen und Ohren schwelgten. Einige tanzten in wilder göttlicher Ausgelassenheit oder in wohlgesetzten Tanzschritten, je nach Stimmung und Musik, einige schritten wie Königinnen durch die Anwesenden oder setzen sich in den Kreis der Zuhörer. Dean schaute die bezaubernden Mädchen nie an, sein Blick war meistens leer auf seine Füße gerichtet. Zum wiederholten Mal sagte er: A prostitute is a prostitute. Dean wich nicht von meiner Seite, das war die Gewähr, an sein Gesöff zu kommen. In finsteren Spelunken läßt er sich eine Nachtration in eine Flasche füllen. Er erzählte mir, wie er nie nachts schläft, das sei zu gefährlich, wenn man kein Zuhause hat. Er schläft bei Tag in irgendwelchen Hinterhöfen. Aber er läuft, wenn auch schlecht rasiert, mit Schlips herum. Er will den gentleman mimen, wenn er auf Weltenbummler trifft wie mich.