Lido, Mödling

Die 90er Jahre waren jung wie wir, als sich im Fernsehen Bilder von Minenfeldern und Zeltstädten zwischen unsere Lieblingssendungen schoben und wir uns ein Spiel daraus machten, auf den asphaltierten Schulwegen vorsichtshalber nicht mehr auf die weißen Tupfen zu treten, die Kaugummis dort hinterlassen hatten. Im Winter brachen wir die längsten Eiszapfen von den Stoßstangen der parkenden Autos und lutschten an ihnen, und im Sommer sprangen wir durch die Rasensprenkler und schlugen Rad, schneller als die Erwachsenen ihre Schritte voreinander setzen konnten.

An den Tagen vor den großen Ferien wartete die Weselý-Oma an den Rädern bei unserer Schule und hatte ein großes Liegetuch in den Gepäckträger geklemmt. In ihrem Körberl bedeckten unsere Badehosen in Backpapier gewickelte Butterbrote und eine klebrige Flasche Hollersaft, an deren Schraubverschluss die Wespen saßen. Wir fuhren die Triester Straße entlang, immer Richtung Süden, bis der Radweg im Sand verlief und die Räder nicht mehr griffen.

Ich erinnere mich, wie wir uns schämten, jede für sich, in unserer ganzen kleinen Leibeskraft, wenn die Männer am Lido in Mödling ihre Badehosen wechselten. Bei vorgehaltenen Handtüchern hüpften die müden Geschlechter so winterweiß hinter den Handtüchern hervor, dass man sie selbst im Augenwinkel noch hell blitzen sah.

Auf dem Steinmäuerchen, das den Lido von der Promenade her überragte, saß damals der Jojo-Malik. Der Jojo-Malik war ein Bub, der einmal in ein Zeitloch fiel, aus dem er ganz faltig und staubig und mit Bartwuchs wieder hervorstieg. Der Oma erzählte ich einmal, dass der Jojo-Malik früher ein ganz Feiner gewesen sein musste, weil er immer blass blieb, obwohl er stundenlang auf dem Mäuerchen saß, das keinen Schutz vor der Sonne bot.

Bevor er der wurde, den wir Jojo-Malik nannten, war er also ein Kind aus gutem Hause, und das gute Haus, das steht wahrscheinlich heute noch dort, wo er ins Zeitloch fiel. In dem Haus steigt heute ein Pfau durch die leeren Gänge und spreizt sich vor den mannsgroßen Spiegeln der Schlafzimmer. Auf den staubigen Spiegeln wachsen die blinden Flecken, denn die Spiegel machten damals die Augen zu, als die Kinder mit ungebundenen Schuhen das letzte Mal aus dem guten Hause liefen. Oder sie erblindeten aus Langeweile in den langen Jahren seither, weil es nichts gab, das zu spiegeln Wert gewesen wär. Da war nur der Staub, der sich setzte, der feine und friedliche Staub verlassener Häuser. Riecht es hinter den Türen, die damals ins Schloss fielen, heute noch nach dem Schießpulver, mit dem man den Malik in das Zeitloch schoss?

Der Jojo-Malik saß also immer auf dem Mäuerchen am Lido in Mödling und hatte nur mehr zwei Finger an der rechten Hand. Die jagten mir Angst ein, auch wenn ich heute nicht mehr sagen kann, ob sie den zwei gebliebenen Fingern galt, oder jenen, die fehlten. Dabei musste ich immer hinschauen, weil an den zwei Fingern ein glänzendes Jojo hing, mit dem er schon spielte, wenn wir am Lido ankamen und immer noch, wenn wir das staubige Liegetuch schüttelten und Richtung Hietzing aufbrachen.

Julia Hager - Lido,Mödling

Zeichnung: Rolf Hannes

Am letzten der hellen Tagen kippte der Badesee, den wir Ozean nannten. Die mutigen Kinder fingen einen Fisch, der auf dem Wasser trieb. Wir spielten mit seinen Glitzerschuppen, bis er begann, an den Seiten aufzuplatzen. Ich drehte mich weg, suchte meine Weselý Oma. Maliks Jojo warf mir scharf die Sonne in die Augen. Von allen Seiten glänzten die weißen Lenden und die blanken Hintern. Sie alle verband eine Blässe und eine Blöße, die ich von mir nicht kannte.

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