Es herrscht Einigkeit darüber, dass am Sonntag trotz der Üppigkeit des Mittagsmahls der nachmittägliche Kinobesuch heiliger als der Gottesdienst ist. Die Frauen der Familie beeilen sich mit dem Wegräumen des Geschirrs. Dabei werden Fettspritzer ignoriert und angebrannte Töpfe verschwinden im Backofen. Anschließend kleiden sie sich sorgfältig. Die erste Vorstellung fängt meistens schon um zwei Uhr an. Der Vater fährt Mutter, Großmutter und zahlreiche Kinder ins Kino, bleibt aber nicht dort. Später wird er noch einmal kommen, um alle vor dem Vitoria abzuholen. Wie die anderen Filmtheater der Stadt trägt dieser Saal einen pompösen Namen, Sieg. Die anderen heißen Condor, Avenida, Rivoli, Excelsior, Ópera, Astor, Palácio, Lido, Plaza, Marabá, Glória. Sie wird im Laufe ihrer Jungendjahre jedes davon besser kennenlernen als ihre Handflächen, für die sie sich allerdings nicht besonders interessiert.
Das Vitoria ist eins der großzügigsten Lichtspielhäuser des Orts, mit mehreren rot verkleideten Foyers und Treppen, einem verspielten Süßigkeiten-Stand und eleganten Toiletten. Ihre Erinnerung daran ist in ein weiches, gemütliches, rötliches Nest gebettet. Dennoch läuft sie in ihr immer wieder in Eile atemlos die Treppe hoch zum Saal, oft auch Hand in Hand mit jemand anderem, der genauso wenig den Filmanfang verpassen will. Außerdem darf es nicht schon dunkel sein, wenn sie den Kinosaal betritt, denn in der Dunkelheit findet sie sich nicht schnell genug zurecht. Noch dazu will sie aus dem Schutz des Sessels erleben, wie die Lichter ausgehen, der Vorhang sich öffnet und langsam alles ruhig wird. Sie möchte Teil dieser Zeremonie sein, denn sie ist so etwas wie eine Voraussetzung dafür, dass wundersame Dinge geschehen können.
Bild Licht: Rolf Hannes
Mutter und Großmutter sitzen in der Mitte. Die Kinder werden rechts und links verteilt. Während der Nachrichten und der Vorschau auf andere Filme hört sie das verheißungsvolle Geräusch des Schnappverschlusses der mütterlichen Handtasche und die mitgebrachten Süßigkeiten werden schnell und wortlos ausgeteilt. Es raschelt und knistert eine Weile, dann wird es wieder still. Als der Film anfängt, ist es, als ob Teilchen von ihr zur Leinwand eilen würden, vom Licht magnetisiert und angezogen. Fetzen ihrer noch kurzen Geschichte findet sie dort wieder in einer Form, die immer passt, egal welchen Film sie anschaut. Anschauen ist aber nicht das richtige Wort, denn in ihrem fragmentierten Wesen absorbiert sie das Dargebotene eher und von ihren Augen könnte man sagen, dass das Kind keine mehr hat, die blinzeln oder die Umgebungen auskundschaften könnten, keine Augen für irgendetwas anderes als das geballte Licht.
Alles macht plötzlich Sinn, die Fremdheit löst sich ins Behagliche auf. Ihre Konzentration (oder Ablenkung) ist groß, sie vergisst die Grenzen ihres Körpers. Es gibt kein Innen und kein Außen mehr. Sie ist eins mit ihrem Sessel und dieses Ganze, weil Mädchen und Stuhl ein und dasselbe geworden sind, ist so leicht, so ätherisch, dass es fast aufhört zu existieren. Sie ist irgendwo auf einer weiten Straße unterwegs und wird bald da ankommen, wo sie immer sein wollte.
Der Prozess, Schatten zu lebendigem Licht zu machen, fesselt sie. Sie ist damit beschäftigt, ohne es wirklich zu sein, denn es gibt für sie keine Anstrengung, nur den ungezwungen fließenden Atmen. Sie atmet Licht, ein und aus.
Als sie das alles viel später aufschreibt, ist sie selber erstaunt über die gleichzeitige Intensität und Leichtigkeit ihrer erinnerten Gefühle. Die Stille des geschriebenen Worts passt zu der innerlichen Stille dieser frühen Kinovorstellungen, egal wie laut sie gewesen sein mögen. Schreib auf, so war es wirklich, muss sie sich vergewissern. War es wirklich so oder war es nur auf der Leinwand so? Sie weiß es kaum zu unterscheiden. Sie weiß dennoch, sie war da – fällt ihr noch ein.