Seit Monaten kein Deutsch-Unterricht – weil Lehrerin in Rente ging. Degeneration einer Bildungsnation
Von reitschuster.de
Corona ist vorbei, der Schulbetrieb ist in ganz Deutschland schon längst wieder zur Normalität zurückgekehrt. In ganz Deutschland? Nein, in Mansfeld im südlichen Sachsen-Anhalt findet nach wie vor noch kein geregelter Unterricht statt, zumindest nicht für alle. Das hat aber nichts mit irgendwelchen Viren oder Pandemien zu tun, sondern ist ein besonders krasser Auswuchs des seit Jahren bekannten Lehrermangels in Deutschland.
Erst vor wenigen Wochen offenbarte die aktuelle IGLU-Studie, hierzulande kann jeder vierte Grundschüler nicht richtig lesen. Aber auch an den weiterführenden Schulen herrschen mancherorts offenbar erschütternde Zustände, so wie zum Beispiel an der Martin-Luther-Sekundarschule in Mansfeld.
Unglaublich, aber wahr: Schon seit Oktober 2022 wurde für rund 60 Schüler der Deutsch-Unterricht vom Stundenplan gestrichen. Und das ausgerechnet im Jahr vor den Prüfungen. Eine Mutter schlägt in der „Bild“ Alarm: „Die Kinder haben Angst, die Prüfung im nächsten Jahr zu verhauen. Für ihren Start ins Ausbildungsleben wäre das fatal.“
Dabei ist der Mißstand keineswegs über Nacht über die Schule hereingebrochen. Die bisherige Deutsch-Lehrerin, die an der Schule insgesamt drei 9. Klassen unterrichtet hatte, wurde im Oktober regulär pensioniert. Doch weder davor noch danach haben die Verantwortlichen auf die sich seit Jahren abzeichnende Vakanz reagiert.
Bei der Frage nach den Verantwortlichen wird es noch abenteuerlicher: Auf Nachfrage wurde den Kollegen mitgeteilt, auch die Position des Schulleiters seiunbesetzt. Dessen Stellvertreter begnügte sich mit dem Hinweis, man frage „jede Woche beim Schulamt“ nach. Ähnliches Spiel auch beim Bildungsministerium, wo man ebenfalls jede Schuld von sich weist und mit dem Finger auf das Landesschulamt zeigt.
Und endlich findet sich jemand, der bereit ist, sich zu der Situation an der Martin-Luther-Sekundarschule in Mansfeld zu äußern: Die Stelle sei im vergangenen Jahr ausgeschrieben worden, die Bewerberzahl sei jedoch „sehr gering“ gewesen und potenzielle Kandidaten hätten letztlich andere Stellen angenommen.
Mit Blick auf das vor der Tür stehende Abschlussjahr versucht sich das Landesschulamt im Beschwichtigen. Dieses sei „gesichert“, die Prüfungsvorbereitung stehe nicht infrage, so die lapidare Auskunft.
Not macht bekanntlich erfinderisch, das gilt offenbar auch für die Martin-Luther-Schule in Mansfeld. Anstatt Deutsch wurden im zweiten Halbjahr verstärkt Fächer wie Ethik, Technik oder Wirtschaft unterrichtet. Im Gegenzug sollen dann im Schuljahr 2023/24 mehr als die üblichen vier Einheiten Deutsch-Unterricht pro Woche auf dem Stundenplan stehen – wenn, ja wenn bis dahin ein dazu befähigter Lehrer gefunden worden ist.
Zur Not will das Landesschulamt ansonsten „Lehrer von außerhalb“ einsetzen. Was dann, auch wenn das in dem Bericht nicht ausgesprochen wird, notwendigerweise aber natürlich zur Folge hätte, dass diese andernorts fehlen.
Der Lehrerverband zeigt sich jedenfalls alarmiert und sieht in Deutschland den „größten Lehrermangel seit 50 Jahren“. Bundesweit würden, so die Einschätzung der Kultusministerkonferenz, mehr als 12.000 Lehrer fehlen, was zwangsläufig ausfallenden Unterricht und volle Klassen zur Folge habe.
Dabei gäbe es durchaus Lösungen, womit wir wieder bei den Erfahrungen aus der Corona-Krise wären. Zur Erinnerung: Bis März 2020 war Heim-Unterricht in Deutschland verboten, und zwar strengstens – ehe das sogenannte „Home-Schooling“ dann über Nacht zur staatsbürgerlichen Pflicht ausgerufen wurde. Es mag gute Argumente gegen den Heim-Unterricht geben – ebenso wie es auch welche dafür gibt, wenn das jemand ausdrücklich möchte und gewissenhaft umsetzt.
Aber: Ein generelles Verbot dieser alternativen Schulform macht wohl nur dann Sinn, wenn der Staat auch in der Lage ist, die vorhandene Nachfrage nach Bildung mit einem adäquaten Angebot zu bedienen. Ansonsten werden Zustände, wie sie aktuell an der Martin-Luther-Schule in Mansfeld herrschen, in Deutschland nicht mehr nur die traurige Ausnahme darstellen, sondern könnten schon bald zur Regel werden.
Auch Heinz-Peter Meidinger sieht speziell beim Deutsch-Unterricht an unseren Schulen einiges im Argen liegen. Gegenüber der dpa stellt der Präsident des Deutschen Lehrerverbands die rhetorische Frage, ob es etwa Englisch-Unterricht schon in der Grundschule brauche. In diesem Alter komme es vor allem auf die Vermittlung der Grundlagen an, also Schreiben, Lesen und Rechnen. Die durch das wegfallende „Englisch“ freiwerdenden Kapazitäten – sowohl auf dem Stundenplan als auch in der Lehrerschaft – wären dem Experten zufolge beim Lese-Unterricht weitaus besser aufgehoben.