Kinderglück

Als ich sechs war, ging der Sommer irgendwo zwischen Nachbars Garten und dem Sonnenblumenfeld hinterm Elternhaus verloren.

Ich weiß noch wie ich jeden Tag durchs Dorf wanderte, Baumhäuser baute, kleine Tiere beobachtete und geheime Orte entdeckte. Der Sommer dauerte eine Ewigkeit und fühlte sich wie ein ganzes Leben an. Ich war ein unerschrockener Entdecker in der Wildnis und beim Obstgarten am Dorfrand wurde ich zum Räuber. Pfirsiche, Pflaumen und rotleuchtende Äpfel wurden mein Proviant, bis ich einmal versehentlich einen Apfelkern mitaß. Bestimmt eine Woche lang litt ich unter Todespanik. Ich dachte, ich müsse sterben, weil aus meinem Bauch bald ein Apfelbaum wüchse. Täglich guckte ich in den Spiegel und schaute nach, ob aus meinem Bauchnabel schon langsam ein Ast oder ein Blättchen rausschaut. Ich hatte so große Angst, denn ich wollte nicht sterben. Ich wollte unbedingt älter werden und noch größere Abenteuer erleben, weil ich dachte, Erwachsene seien doch unerschrockener als ich es war.


Zeichnung: Rolf Hannes

Ich dachte früher auch, der Wind werde von den Bäumen gemacht, und die Vögel sind die glücklichsten Wesen auf der Erde, weil sie mitten durch das Blau des Himmels fliegen, und der Wind trägt sie, wenn sie aus der Puste geraten. Ich dachte auch, die Vögel könnten den ganzen Tag beim Fliegen Süßigkeiten essen – schließlich bestanden die Wolken damals für mich aus Zuckerwatte. Als ich später die Sommerferien mit meinen Eltern im Ausland verbrachte, wollte ich im Flugzeug direkt am Fenster sitzen, nur für den Fall, das Fenster würde aufgehen. Dann hätte ich mir einen riesigen Klumpen Abendrosazuckerwattewolke geschnappt und ihn den restlichen Flug lang gefuttert. Da das aber nie geschah, starrte ich bis zur Landung sabbernd die Wolken an und wurde ein bißchen traurig, weil ich auch so gern wie ein Vogel fliegen wollte.

Auch wenn meine Mutter darüber lachte: Wenn ich groß und erwachsen wäre, sollte auch mein Baumhaus riesengroß sein. So groß, die ganze Familie könnte darin wohnen. Fünf Sommer lang wollte ich das Baumhaus verbessern und vergrößern und dann wäre ich erwachsen, davon war ich fest überzeugt. Und bis dahin wollte ich jagen lernen, damit wir im Baumhaus nie Hunger hätten.

Fortsetzung folgt.

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Eine Antwort zu Kinderglück

  1. Marion Leuther sagt:

    Was für ein schöner, berührender Text! Sehr sinnlich, und ähnlich meiner eigenen Kindheit, als es ringsum noch viele unverbaute Plätze gab. Und so viel zu entdecken. Am besten gefiel mir der Part mit dem Apfelbaum im Bauch. Auch wenn das natürlich als Kind extrem erschreckend ist. Solche Ängste hatten wir alle, das konnte ich sehr gut nachempfinden. Danke für diese wunderbare Schilderung und die geweckten Kindheitserinnerungen. Und für das stimmungsvolle Baumbild, das perfekt zum Text passt.

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