Karl Kassandra Lauterbachs Quadratur der Impfung

Und ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode.

Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Thomas Rießinger

Wieder einmal hat Karl Kassandra Lauterbach, der eminent erfolgreiche Erklärer epidemiologischer Eventualitäten, seine faszinierend-fortschreitende Fürsorglichkeit unter Beweis gestellt. Kaum hört man aus Israel, dass der beliebte Biontech-Impfstoff bei der gern herangezogenen Delta-Variante von SARS-CoV-2 vielleicht nur zu 64 Prozent schütze – wobei man auch bei der Tagesschau den Unterschied zwischen einer relativen und einer absoluten Risikoreduzierung wohl bis heute nicht verstanden hat –, findet sich der findige Professor für Gesundheitsökonomie am 6. Juli 2021 vor einer Tagesschaukamera ein, um den zögernden Zuschauern die Zusammenhänge zu erklären. „Es kann durchaus sein“, verkündet der so beliebte wie kenntnisreiche Gesundheits-experte (ab 5:08), „dass die Impfungen ohne jeden Lockdown, also wenn wir wieder ganz normal miteinander zusammenleben, dass die Impfungen dann nicht so stark wirken, weil man dann sehr viel stärker exponiert wird, und wenn dann tatsächlich die Impfwirkung sinkt, in dieser Größenordnung, dann hätten wir auch im Herbst ein Problem.“

Ich will gerne davon absehen, dass ich zu keiner Zeit mit Karl Kassandra Lauterbach „wieder ganz normal miteinander zusammenleben“ möchte, nicht einmal im Herbst, denn dann hätten sowohl er als auch ich „ein Problem“, ganz unabhängig von der Impfwirksamkeit. Sehen wir uns aber einmal die Logik seines Denkens an. Seit geraumer Zeit erklärt man uns – der großartige Gesundheitsexperte immer an vorderster Front –, Lockdowns seien alternativlos, weil man nur so die Zeit bis zum absehbaren Einsatz eines Impfstoffes überbrücken könne. Den Umstand, dass man anderenorts durchaus in der Lage war, Alternativen zum alternativlosen Lockdown zu finden, sollte man hier nicht überbewerten, woher soll das ein professoraler Politiker oder gar ein Journalist des öffentlich-rechtlichen Rundfunks auch wissen? Die Lauterbach-Linie war stets klar: Solange kein Impfstoff vorhanden ist, braucht man einen Lockdown, denn ein normales Zusammenleben, früher einmal normale zwischenmenschliche Kontakte, bei denen man – man kann es sich kaum vorstellen, ohne zu erschrecken! – anderen Menschen und Gesundheitsgefährdern ausgesetzt ist – diese unverantwortliche Lebensweise führt insbesondere zu Beginn der kalten Jahreszeit zu unabweisbaren Problemen. So hat man es uns gesagt. Und so hat man auch im vollen Bewusstsein der Alternativlosigkeit gehandelt, ich darf an den Beginn der Lockdown-Orgie im letzten November erinnern. Nur in der Impfung liegt das Heil.

Kurz und in den Worten des geschätzten Gesundheitsexperten formuliert: Wenn wir ohne Impfung „ganz normal miteinander zusammenleben“ und „man dann sehr viel stärker exponiert wird“, dann hat man im Herbst ein Problem, sofern man sich nicht auf den Lockdown einlässt. So lautete das Argument für die heute kaum noch vorstellbare impfstofflose Zeit. Doch die ist zum Glück tiefe Vergangenheit, seit geraumer Zeit ist die Impfung im Gange, und das hat selbstverständlich alles geändert. Sollte man denken. Doch der prachtvolle Professor denkt anders. Um noch einmal auf die Worte des erstklassigen Experten zurückzugreifen: Wenn wir mit Impfung „ganz normal miteinander zusammenleben“ und „man dann sehr viel stärker exponiert wird“, dann hat man im Herbst ein Problem, sofern man sich nicht auf den Lockdown einlässt. Denn vielleicht wirken ja die Impfungen nicht so stark. Zusammengefasst: Der Unterschied zwischen dem Leben ohne Impfstoff und dem Leben mit Impfstoff besteht darin, dass man in beiden Fällen dringend einen Lockdown benötigt. Um darauf zu kommen, muss man wohl wirklich Gesundheitsökonom sein.

In Heinrich von Kleists Stück „Der zerbrochene Krug“ verkündet in der ersten Szene der Richter Adam – ein Gauner in Richterrobe, der sich vielleicht in dem einen oder anderen heutigen Hohen Gericht recht wohlfühlen würde – die Verse:

„Ja, seht. Zum Straucheln braucht’s doch nichts als Füße.
Auf diesem glatten Boden, ist ein Strauch hier?
Gestrauchelt bin ich hier; denn jeder trägt
Den leid’gen Stein zum Anstoß in sich selbst.“

Im Verlauf des Stücks strauchelt Adam, er braucht dafür tatsächlich keinen Strauch und keinen Stein, weil er sich in seinen eigenen frei erfundenen Aussagen verstrickt: Er trägt „den leid’gen Stein zum Anstoß“ wirklich „in sich selbst“ und muss am Ende die Flucht ergreifen, weil jeder gemerkt hat, wie gründlich seine Verteidigung an seinen Widersprüchen gescheitert ist. Immerhin braucht es bei Kleist und Richter Adam ein ganzes Theaterstück, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen. Karl Lauterbach schafft es in weniger als einer halben Tagesschau-Minute, den in ihm selbst liegenden „Stein zum Anstoß“ zu offenbaren. Für diese Leistung gebührt ihm Respekt, verbunden mit dem ehrlich empfundenen Wunsch, er möge bald seinen Ruhestand genießen. Möglichst schon ab morgen.

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