Joe Biden

Von Peter Löcke

„Wenn Russland zum Beispiel mit Panzern und Truppen die Grenze zur Ukraine überquert, wird es Nord Stream 2 nicht mehr geben.“ (Joe Biden)
„Was mich schon seit langem umtreibt, ist, dass wir die Möglichkeit schaffen, die Beweislast umzukehren.“ (Nancy Faeser)

Am 7. Feb. 2022 verspricht (!) Joe Biden die Beendigung des größten europäischen (!) Wirtschaftsprojektes Nord Stream im Falle eines russischen Einmarsches in die Ukraine. Am 16. März 2022 verkündet Nancy Faeser ihre Zukunftsvision einer Beweislastumkehr im Disziplinar- und Beamtenrecht. Nach meiner persönlichen Einschätzung haben sowohl die Worte des amerikanischen Präsidenten als auch die Worte der deutschen Innenministerin das Potenzial, es in die Geschichtsbücher zu schaffen.

Bilden Sie sich gerne ihre eigene Meinung an der Quelle und den Originalzitaten. Hier die offizielle Übersetzung* der Pressekonferenz in Washington mit Olaf Scholz und Joe Biden. Hier die Aussage Nancy Faesers während einer Fragestunde im deutschen Bundestag. Andere Menschen mögen die Aussagen anders interpretieren, vielleicht weniger dramatisch als ich. Dann ist es spannend, darüber zu diskutieren und Argumente auszutauschen. Hart in der Sache, aber kultiviert. Damit habe ich kein Problem. Mein Problem ist ein anderes. Mein Problem heißt Schweigen. Können Sie sich erinnern, was nach dem 7. Februar bzw. nach dem 16. März 2022 passierte? Nichts.

Es passierte jeweils über ein halbes Jahr nichts. Zwar wurde Biden bei Tagesschau und Co korrekt zitiert, aber die wortwörtliche Sprengkraft der Aussage erkannte und diskutierte niemand. Einzig eine amerikanische Journalistin war sich umgehend der Dimension bewusst und hakte noch während der PK beim US-Präsidenten nach.
„Aber wie genau machen Sie das? Das Projekt ist unter der Kontrolle Deutschlands.“
Biden: „Ich verspreche Ihnen: Das werden wir schaffen.“
Erst nach den Anschlägen auf die Nord-Stream-Pipelines am 26. September erkannte man die Tragweite der Äußerung. Warum nicht vorher?

Den Februar-Aussagen des US-Präsidenten wurde in Deutschland wenig Beachtung geschenkt, doch sie wurden immerhin erwähnt. Im Gegensatz zum Faeser-Zitat. Da stellt eine deutsche Innenministerin mal eben das oberste Prinzip eines jeden demokratischen Rechtsstaats auf den Kopf. Aus „Im Zweifel für den Angeklagten“ soll zukünftig „Im Zweifel für den Ankläger“ werden. Der vom Staat Beschuldigte soll gefälligst seine demokratische Unschuld beweisen. Das sei weniger kompliziert. Doch Faesers skandalöse Ankündigung ging unter. Niemandem fiel es auf. Erst als die deutsche Innenministerin nach der öffentlichkeitswirksamen Reichsbürger-Razzia diesen feuchten juristischen Alptraum im TV wiederholte, wurde ihre März-Aussage zu einem Politikum. Neun Monate später. Auch hier sei gefragt: Warum nicht vorher?

Ich versuche die Frage auf einer Metaebene zu beantworten. Weil Menschen, auch Journalisten, unaufmerksam sind. Leider auch ich. Weil die wenigsten Menschen zur eigentlichen Quelle gehen und dieser zu wenig Beachtung schenken. Stattdessen hecheln wir von Nachricht zu Nachricht und umgeben uns mit vermeintlichen Quellen. Gerade der Online-Journalismus funktioniert so. Manche Faktenchecks bestehen zur Hälfte aus Verlinkungen. „Verwendete Quellen“ steht mittlerweile unter vielen Artikeln. Das suggeriert dem Leser Seriosität und Nachprüfbarkeit.

Handelt es sich bei diesen verwendeten Quellen um wirkliche Quellen? Sind etwa Süddeutsche, NZZ, New York Times und dpa eine Quelle? Einerseits schon. Andererseits nicht, weil ich dadurch lediglich erfahre, wo der Autor des Artikels abgeschrieben hat. So entstehen schnell „übereinstimmende Medienberichte“. Ist der Experte XY eine Quelle? Einerseits schon. Nur hält sich mein Erkenntnisgewinn in Grenzen, wenn dieser Experte nicht politisch eingeordnet wird. Expertenquellen sind mittlerweile generell fragwürdig, weil stets die gleiche Meinung präsentiert wird, während eine konträre Expertenmeinung ignoriert wird. Ist eine Pressemitteilung der Bundesregierung eine Quelle? Einerseits schon. Und doch ist sie nutzlos, wenn lediglich die politische Werbe-Botschaft verbreitet wird statt die Pressemitteilung zu hinterfragen. Die Quelle bleibt nutzlos, wenn kein Journalist ins Kleingedruckte geht. Es ist wie bei einem Buch. Kann ich das Buch beurteilen, nachdem ich zehn Kritiken darüber gelesen habe? Nur bedingt. Ich muss es schon selbst lesen. Ich muss zur Quelle gehen. Leider hört Journalismus oft da auf, wo er anfangen sollte.

Machen Sie mal wieder einen Spaziergang mit einem kleinen Kind. Ob nun mit ihrer Tochter, ihrem Sohn, ihrem Enkel, ihrem Paten- oder einem Nachbarskind. Wenn sie dann an einem Bachlauf vorbeikommen und das neugierige Kind Sie fragt, wo das Wasser herkommt – dann reicht keine informelle Antwort. Vermutlich wird das Kind Sie lange anschauen und Sie anschließend auffordern: „Auf zur Quelle!“ Diese brennende Neugier würde ich manch einem Journalisten und manchmal auch mir wünschen.*

* Wenn man zur Quelle geht, entdeckt man oft Erstaunliches. Die Ankündigung Bidens, was mit Nord Stream 2 geschehe, wird den meisten Lesern bekannt gewesen sein. Wie interpretieren Sie folgende Aussage des US-Präsidenten, die ebenfalls auf der Pressekonferenz am 7. Februar 2022 fiel?
„Aber wenn sich Deutschland anders entscheidet, dann sind wir bereit.“
Rückblickend hat sich Deutschland richtig entschieden. Im amerikanischen Sinne. Nicht im deutschen.

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