eXXpress-Interview: Herr Professor Sachs, verbreiten Sie russische Propaganda?
Star-Ökonom Prof. Jeffrey Sachs macht sich seit der Ukraine-Invasion für Friedensgespräche stark und attackiert das Vorgehen des Westens. Das brachte ihm selbst wiederum scharfe Kritik ein. Er verbreite russische Propaganda, heißt es. Am Rande seines Wien-Besuchs hat der eXXpress Sachs mit den Vorwürfen konfrontiert.
Der amerikanische Top-Ökonom Prof. Sachs erntet für seine Positionen im Ukraine-Krieg teils heftige Vorwürfe. Er verbreite russische Propaganda und verlange von Kiew, sich Moskau auszuliefern, behaupten seine Kritiker. Darüber hinaus betreibe er einseitige Schuldzuweisung, und mache Washington und die NATO zum alleinigen Sündenbock.
Der eXXpress hat Jeffrey Sachs am Rande seines Wien-Besuchs mit den Einwänden konfrontiert. Der prominente Wirtschaftswissenschaftler verteidigt darin seinen Standpunkt (teils unter Verweis auf verschiedene Quellen). Über Chancen auf ein Kriegsende hat der eXXpress ebenfalls mit ihm gesprochen. Zu diesem Thema hat Prof. Sachs am Montag auch einen Vortrag auf Einladung von „International – Die Zeitschrift für internationale Politik“ gehalten.
Professor Jeffrey David Sachs, Jahrgang 1954, ist ein weltweit berühmter US-Ökonom und Bestsellerautor. Von 2002 bis 2006 war er Sonderberater für die Millenniums-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen. Er ist Direktor des Zentrums für nachhaltige Entwicklung an der Columbia University in New York.
Mein Engagement in Russland und der Ukraine reicht 34 Jahre zurück“
Was hat Sie dazu veranlasst, sich zur Invasion in der Ukraine zu äußern? Seit wann interessieren Sie sich für den Krieg?
Als Weltbürger, Vater, Großvater und Mensch, der zutiefst besorgt ist über den Tod und das Leid in der Ukraine und die Bedrohungen für die ganze Welt, setze ich mich sehr für ein schnelles Ende dieses zerstörerischen, unnötigen und sehr gefährlichen Krieges ein.
Mein aktives berufliches Engagement in Russland und der Ukraine reicht 34 Jahre zurück. Ich war Wirtschaftsberater des sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow, des russischen Präsidenten Boris Jelzin und des ukrainischen Präsidenten Leonid Kutschma und setze mich seit dieser Zeit für den Frieden zwischen Russland, Europa und den USA ein. Außerdem war ich Berater von drei UN-Generalsekretären für eine nachhaltige Entwicklung auf der Grundlage von globalem Frieden und Zusammenarbeit. Seit langem warne ich vor den grassierenden Gefahren der US-Außenpolitik und habe 2019 ein Buch mit dem Titel „A New Foreign Policy: Beyond American Exceptionalism“ geschrieben, in dem die großen Gefahren des anhaltenden Hegemoniestrebens der USA detailliert erläutert werden.
„Für die Ukraine wäre Neutralität viel sicherer gewesen“
Sie sehen eine Hauptursache für den Krieg in der NATO-Osterweiterung und in den Bemühungen, die Ukraine in die NATO aufzunehmen. Ihre Kritiker sagen: Sie ignorieren das aggressive Verhalten Russlands gegenüber seinen Nachbarstaaten und Republiken in Geschichte und Gegenwart (siehe Tschetschenien und Georgien). Ist es nicht verständlich, dass sich ehemalige Ostblockstaaten in der NATO besser vor Russland geschützt fühlen?
Manchmal ist Neutralität der sicherste Weg für ein Land, das zwischen Großmächten steckt. Österreich hat das von 1955 bis heute bewiesen. Für die Ukraine wäre es viel sicherer gewesen, ein neutrales Land zu bleiben, als ein Schlachtfeld zwischen zwei nuklearen Großmächten zu werden. Ebenso würde ich Mexiko dringend empfehlen, kein Militärbündnis mit China einzugehen, auch wenn es sich dazu berufen fühlt, denn Mexiko wäre ohne ein solches Bündnis, das es gegen die Vereinigten Staaten ausspielt, sicherer, viel sicherer.
Russland und die Ukraine waren sich im März 2022 fast einig“
Russlands imperialistische Ziele werden auch im staatlichen Fernsehen offen ausgesprochen. Putin-Freund Wladimir Solowjow zum Beispiel bezeichnete dort die Russen als auserwähltes Volk und spricht von der Zerstörung Kiews und Europas. Warum sind Sie 2022 dennoch zweimal in seiner Sendung aufch bin unter anderem im amerikanischen, russischen, europäischen, indischen, chinesischen und brasilianischen Fernsehen aufgetreten und habe immer wieder zu Verhandlungen zwecks Beendigung des Krieges aufgerufen. Ich glaube, dass der Krieg unter Bedingungen beendet werden kann, wie sie im März 2022 zwischen Russland und der Ukraine fast unterzeichnet wurden (der eXXpress berichtete): ein Ende der Kämpfe, ein russischer Truppenabzug, keine NATO-Erweiterung und eine politische Lösung für die Krim und den Donbas. Leider waren die USA gegen diese Vereinbarung, und die Ukraine brach die Verhandlungen ab.
„Die wichtigsten US-Diplomaten waren sich einig: Die NATO-Erweiterung war fahrlässig.“
Mit der NATO-Osterweiterung sei ein Versprechen gegenüber Michail Gorbatschow gebrochen worden, kritisieren Sie. Washington und Berlin hätten zugesagt, die NATO „keinen Zentimeter nach Osten“ zu verlegen. Völkerrechtlich ist dieses Versprechen aber irrelevant. Es ist nicht Bestandteil eines Vertrages. Damit geht diese häufige Kritik doch ins Leere?
Die Leser können die Dokumente selbst lesen, hier und hier. Die USA und Deutschland haben klare und wiederholte Versprechen gebrochen. Die Archivare der Staatssicherheit fassen zusammen: „Gorbatschow ging mit der Gewissheit an das Ende der Sowjetunion, dass der Westen seine Sicherheit nicht bedroht und die NATO nicht ausbaut.“
Darüber hinaus waren sich die wichtigsten US-Diplomaten einig, dass die NATO-Erweiterung fahrlässig war. Die Leser sollten sich ansehen, was die Diplomaten George Kennan, William Burns, Jack Matlock, Henry Kissinger und William Perry gesagt haben. Sie alle haben davor gewarnt, dass die NATO-Erweiterung gefährlich und rücksichtslos sei. Leider hat der militärisch-industrielle Komplex der USA die Lobbyarbeit für die NATO-Erweiterung angeführt (insbesondere Lockheed Martin, Northrop Grumman, Textron Inc., Raytheon, Boeing und McDonnell Douglas), und die Politiker haben sich wie üblich auf die Seite der Rüstungslobbyisten geschlagen und nicht auf die wahren nationalen (und weltweiten) Interessen der USA.
„Während meiner gesamten Lebens hat der militärisch-industrielle US-Komplex nutzlose, grausame Kriege geführt“
Umgekehrt war es Russland selbst, das Verträge gebrochen. Mit der Annexion der Krim zum Beispiel hat es das Budapester Memorandum und den russisch-ukrainischen Freundschaftsvertrag verletzt. Warum reden Sie immer von den Fehlern des Westens?
Im Juli 1990 erklärte die Rada (ukrainisches Parlament) ihre staatliche Souveränität und bekundete „ihre Absicht, ein dauerhaft neutraler Staat zu werden, der sich nicht an Militärblöcken beteiligt”. Im selben Jahr versprachen die USA, die NATO werde sich „keinen Zentimeter nach Osten bewegen“. Russland unterzeichnete die Budapester Erklärung von 1993 im Jahr 1993. Die USA brachen in den 1990er Jahren das Versprechen, die NATO nicht zu erweitern. Die Ukraine brach Anfang der 2000er Jahre das Versprechen, ein dauerhaft neutraler Staat zu werden. Im Jahr 2008 verpflichtete sich die NATO zur Erweiterung um die Ukraine und Georgien. Im Jahr 2014 wurde Janukowitsch mit Unterstützung der USA gewaltsam gestürzt. Es folgte die Annexion der Krim.
Was die Außenpolitik der USA im Allgemeinen betrifft, so möchte ich auf die Lehre Jesu verweisen, der sagte: „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?“ (Matthäus 7, 3-5). Um es einfach auszudrücken: Als Amerikaner weise ich auf die groben Fehler Amerikas hin. Sie sind in der Tat sehr schwerwiegend. Während meiner gesamten Lebenszeit hat der militärisch-industrielle Komplex der USA eine grobe Arroganz der Macht an den Tag gelegt und nutzlose, grausame und unnötige Kriege in Vietnam, Laos, Kambodscha, Nicaragua, Haiti, Iran, Irak, Syrien, Libyen, Serbien, Jemen und jetzt in der Ukraine geführt. Die USA haben seit 1945 weit mehr Kriege geführt als jedes andere Land der Welt. Die USA geben mehr für das Militär aus als die nächsten 10 Länder zusammen, und dreimal mehr als China. Es ist an der Zeit, dass die USA aufhören, den Hegemon der Welt spielen zu wollen.