Ich erwarte Besuch

Nein, sagt die alte Frau, sicher nicht. Sie wolle nicht umziehen. Hier zu Hause, sagt sie, sei es am besten für sie. Hier wisse sie ja, wo alles sei, wo ihre Stühle stehen, wo ihr Telefon sei und alles. Sie lächelt ihn an.

Der Sohn atmet tief durch den Mund ein und leise durch die Nase pustend wieder aus. Das ist schwierig, wieder einmal. Immer schwierig, eigentlich. Wieder ist schimmeliges Brot im Kühlschrank. Und sie isst trotzdem davon. Mit viel guter Butter, wie sie immer sagt, und mit dick Marmelade drauf schmeckt ihr das Brot. Sie wird noch krank werden davon, glaubt er. Ich bin 91 Jahre alt, ich bin doch gar nicht mehr lange auf der Welt, meint sie.

Die Milch in dem Glas, das auf dem Tisch steht, riecht säuerlich. Das ganze Zimmer riecht danach. Er öffnet das Fenster. Staubmäuse werden vom plötzlichen Luftzug aufgescheucht und fliegen unter dem Seitenschrank hervor. Sie sammeln sich in lockeren Schwaden in der Zimmerecke. Die grau gewordene Gardine legt sich in immer wieder vor- und zurückschaukelnde Falten. Die Gardinenröllchen klackern gegeneinander. Unter dem Fenster gluckert die Heizung. Ist es nicht kalt hier? fragt die alte Frau, während sie über die Tischdecke streicht. Die rechte Handfläche schiebt sorgfältig nicht vorhandene Falten in Richtung Tischkante. Ihre linke Hand liegt ruhig auf dem Tisch. Nur der kleine Finger zuckt ein wenig. Das Bügeleisen leuchtet auf. Klack macht der Heizmechanismus. Draußen singt eine Amsel.

Petra Frank - Ich erwarte Besuch

Zeichnung Rolf Hannes

Ob sie bügeln wolle? Sie schaut ihn nachdenklich an. Oh ja, antwortet sie und zeigt auf eine Bluse, die über ihrem Stuhl hängt. Sie erwarte für den Nachmittag Besuch und habe noch viel zu tun. Einen Kuchen möchte sie auch noch backen. Ob er denn noch lange bleibe? Er atmet wieder hörbar ein, verlagert sein Gewicht vom linken Fuß auf den rechten, dann wieder auf den linken, schnauft die Luft leise wieder aus. Er hört die Amsel singen. Er blickt nach draußen und wieder zu seiner Mutter. Er öffnet den Mund, sagt nichts, schließt den Mund wieder. Blickt wieder nach draußen und wieder zu ihr. Ob er ihr etwas einkaufen könne? Nein, Lieber, geh‘ nur, ich komme zurecht, erwidert sie. Sie lächelt ihn an. Lebhafte, fröhliche Augen, wie ein Schulkind, das einen Spaß mit seiner besten Freundin macht, findet er.

Die Milch rieche sauer, er werde sie wegschütten, sagt er zu ihr. Oh, ist sie das?, fragt sie. Du hast eine feine Nase, fügt sie hinzu und lächelt erneut. Ob er etwas für sie tun könne, fragt er sie während er das Glas ausspült. Nein, nein, geh Du nur. Du hast sicher zu tun, antwortet sie. Sie streicht noch einmal über die Tischdecke und schiebt ihren schweren Stuhl zurück. Dann stützt sie sich auf die Tischkante und steht langsam auf. Ob sie ihn anrufe, wenn sie etwas brauche, fragt er. Natürlich, mein Lieber, sagt sie. Auf ihrem schweren dunkelblauen Rock sind verkrustete Flecken. Auf seine Frage, ob er ein Paar Hosen kaufen solle oder einen neuen Rock, verschwindet ihr Lächeln. Dieser hier ist über 40 Jahre alt, verkündet sie, der ist noch wie neu. Schau hier! Sie demonstriert die gute Qualität des Stoffs, indem sie mit ihren Händen ruckartig daran zerrt.

Er schließt das Fenster und verabschiedet sich. An der Wohnungstür nimmt die alte Dame ihn in die Arme und drückt ihn kurz fest an sich. Sie nimmt seinen Kopf zwischen ihre Hände. Er beugt sich zu ihr hinunter. Sie küsst ihn auf die Stirn. Wie früher. Als ob er in die Schule ginge, denkt er.

Pass schön auf, sagt sie munter zu ihm als er das Treppenhaus betritt.

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein abgelegt und mit , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

2 Antworten zu Ich erwarte Besuch

  1. Ursula Gressmann sagt:

    Schwer, zu dieser Kurzschichte einen passenden Kommentar zu hinterlassen.
    Seit ich sie heute Morgen gelesen habe, denke ich darüber nach:
    Ist Liebe oder nur noch Überdruss (der Mutter gegenüber) bei dem Sohn vorhanden?
    Gruß Uschi

  2. Marion Leuther sagt:

    Schöne Geschichte! Der Sohn will helfen, weiß aber nicht wie. Die Mutter braucht Hilfe, will sich aber nicht helfen lassen. Der Konflikt ist fein herausgearbeitet. Und da stecken eine Menge widerstreitender Gefühle drin: Liebe, Abwehr, Vertrautheit, Unverständnis. Worum es wirklich geht, sprechen beide nicht aus. Und gerade diese Sprachlosigkeit macht die Stärke des Textes aus. Die Story hat mich sehr berührt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert