Heinrich von Kleist in Paris Folge 6

Stiftsbibliothek St. Gallen

Heinrich von Kleist schreibt weiter am 15. August 1801 aus Paris:

Wohin das Schicksal diese Nation führen wird – ? Gott weiß es. Sie ist reifer zum Untergang als irgendeine andere europäische Nation. Zuweilen, wenn ich die Bibliotheken ansehe, wo in prächtigen Sälen und in prächtigen Bänden die Werke Rousseaus, Helvetius, Voltaires stehen, so denke ich, was haben sie genutzt?

Hat ein einziges seinen Zweck erreicht? Haben sie das Rad aufhalten können; das unaufhaltsam stürzend seinem Abgrund entgegeneilt? O hätten alle, die gute Werke
g e s c h r i e b e n haben, die Hälfte von diesem Guten g e t h a n, es stünde besser um diese Welt.

Warum verschwendet der Staat Millionen an alle diese Anstalten zur Ausbreitung der Gelehrsamkeit? Ist es ihm um W a h r h e i t zu thun? Dem Staate? Ein Staat kennt keinen andern Vortheil, als den er nach Procenten berechnen kann. Er will die Wahrheit
a n w e n d e n, – und worauf?

Und doch – gesetzt, Rousseau hätte in der Beantwortung der Frage, ob die Wissenschaften den Menschen glücklicher gemacht haben, recht, wenn er sie mit n e i n beantwortet, welche seltsamen Widersprüche würden aus dieser Wahrheit folgen! Denn es mußten viele Jahrtausende vergehen, ehe so viele Kenntnisse gesammelt werden konnten, wie nöthig waren, einzusehen, daß man keine haben müßte.

Nun müßte man alle Kenntnisse vergessen, den Fehler wieder gut zu machen; und somit fienge das Elend wieder von vorn an.

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