Er wurde letzte Woche 85. Das ist keine runde Zahl, um einen Geburtstag zu feiern, doch wenn einer im hohen Alter noch so präsent im Leben steht, geschweige in der Literatur, dann möchte ich ihm fast zu jedem weiteren Tag meinen Glückwunsch ausbringen.
1960 war es, da begegnete ich ihm zum erstenmal, im Museum der modernen Poesie. Als Herausgeber veröffentlichte er darin Gedichte, die er für vorbildlich und beherzenswert fand. Diese Anthologie blieb für mich gültiger Maßstab.
1961, als ich dabei war, meinen kleinen Söhnen manchmal was vorzulesen, konnte das geschehn mit Allerleirauh. Viele schöne Kinderreime, gesammelt und herausgegeben von Enzensberger.
Er hat mich selten enttäuscht, oft entzückt und begeistert. Enttäuscht? Ja, einmal gewiß. Als er 2003 den Einmarsch der Amis in den Irak guthieß. Entzückt und ermutigt? Viele hundertmal. Wie sehr hab ich ihm beigepflichtet, als er die Neue Rechtschreibung verwarf (gemeinsam mit hunderten Schriftstellern, Filmemachern, Verlegern). Sie konnten sich nicht durchsetzen gegen die Ignoranz und Unbildung politischer Apparatschiks. Für mich bleibt das eine ewige Wunde, wenn ich auch in der futura99 allen Autoren ihre neue Schreibweise zugestehe, sozusagen als demokratische Dreingabe (wenn es nicht allzu dick kommt).
Wo hätte sich kritischer Geist freier tummeln können, als in den Kursbüchern? Tummeln mit vielen Schwächen und Irrtümern, aber frei und kreativ wie nirgendwo anders.
Im Deutschen Literaturarchiv in Marbach hängt ein Geniestreich dieses Tausendsassas HME: der Landsberger Poesieautomat. Jedem und jeder sei empfohlen, vor ihm einige Minuten zu verweilen, wenn er seine saftigen Zeilen hinrattert in der trocknen Manier von Hinweistafeln auf Bahnhöfen und Flughäfen.
Wer sich allzu sehr dem Staunen über die literarische Gewitztheit dieser Maschine hingibt, sollte Enzensbergers Nackenstüber gewärtig sein: Wer nicht besser dichten kann, soll es lieber bleiben lassen.