Han San

Han San war von kleiner fast gnomenhafter Gestalt. Er hatte einen rundlichen Kopf, kurzgeschnittene, stachelige Haare oben, und Bartstoppeln im Gesicht, weil er sich nur selten rasierte. Aber sein Haarwuchs war spärlich, wie bei den meisten Asiaten, und so kam es nie zu einem Bart. Sein Kopf wär in einer Ansammlung von Feldfrüchten, Kohlköpfen, Kürbissen und dergleichen kaum aufgefallen. So taten ihm auch zwei Zahnlücken keinerlei Abbruch. Ich hatte den Eindruck, Han San hätte schon immer so aussehen müssen von Kindheit an. Er war 60 Jahre alt, erinnerte aber eher an einen schrumpelig vergreisten 20jährigen. Er hatte die springlebendige Beweglichkeit eines Jugendlichen. Wenn er den Berg herauf kam, mehr gesprungen als gegangen, sah ich sein silbriggrau bestoppeltes Köpfchen an einer Zickzacklinie entlang hüpfen.

Han San war einer der ihren Meister begleitenden 7 Mönche, und nachdem der Meister mit seinen Gehilfen uns 14 Tage und Nächte lang gehörig in der Kunst des Zazens unterwiesen hatte, dann sich zu einem anderen Ort meditativen Bemühens in Europa begab, ließ er Han San zurück, als Gast für die nächsten Monate, bis er, Juho Seki Roshi, wieder vorbeischauen würde.

Es waren genau 9 Monate, die Han San bei uns verweilte. Er sprach keine drei Worte Englisch noch eine andere Sprache, als sein Japanisch. Das einzige, was er je zu mir gesagt hat, war: Dürckheim spiku spiku nix gud. Und manchmal: olimpio, plimpio. Damals fanden gerade die olympischen Spiele in München statt. Meine Mutter hatte mir einen kleinen Schwarz-weiß Fernseher geschenkt, weil sie glaubte, kein Mensch könne in solcher Abgeschiedenheit ohne Fernseher sein.

Jedenfalls kam Han San für Stunden, meistens abends, zu mir und wir entdeckten gemeinsam die Freuden des Fernsehens. Er saß mit untergeschlagenen Füßen auf einem Stuhl, schaute mit seinen flinken schwarzen Äuglein (die Augen waren das einzige dunkle in seinem Gesicht, dunkel nur in bezug zum Äußeren, denn wenn ich in seine Augen schaute, wurde mir ganz hell und fröhlich zumute) und schlief regelmäßig ein. Irgendwann schreckte er auf, glitt vom Stuhl und war weg. Nie hatte ich angst, er könne schlafend vom Stuhl fallen.

Wir haben viel miteinander gelacht. Lachen war unsere Konversation. Von Woche zu Woche unternahmen wir mehr miteinander, zum Schluß verbrachten wir ganze Tage zusammen. Das Schlimme war, je mehr wir zusammensteckten, umso mehr zog sich das offizielle Rütte von Han San zurück. Er begann in Ungnade zu fallen, als er eines heiteren Mittags, während des gemeinsamen Mahls im Gästehaus in das muntere Gequatsche beim Essen seine Pranke auf den Tisch sausen ließ und in die daraufhin entstandene erschreckte Stille hinein furchterregend zu brüllen anfing. Wie ein Orkan rülpste er in seinem Zen-Japanisch aus dem Bauch heraus. Es war ein so unerhörter, unerwarteter Donnerschlag, man hätte davon erleuchtet werden können. Statt dessen zogen es einige Damen vor (es waren welche adeligen Geblüts darunter), den Speiseraum zu verlassen. Fortan ward Han San zum gemeinsamen Gästemahl nicht mehr zugelassen.

Wochen später zersplitterte sein Kesaku (das ist eine Art großer Bratenwender aus Holz) auf dem Rücken eines Gastes während des morgendlichen Zazen. Das rüttische Zazen verlief nach den Regeln der Rinzai-Sekte. Während der Meister (in dem Fall Dürckheim) mit seinen Schülern (Gäste und Mitarbeiter) sich in Zazen üben, geht einer der Meisterschüler (in diesem Fall Han San) mit äußertst langsamen Schrittchen, die Ferse des einen Fußes in Höhe und Kontakt des großen Zehs des anderen setzend, die Reihe der Sitzenden ab. Der Sitzende sieht alle Ewigkeiten die Füße des vorbeischleichenden Mönchs in seinem Blickfeld: es sind die Tritte eines Panthers kurz vorm Sprung auf die Beute. Der Schüler, der seine Konzentration schwinden spürt oder eine Verspannung im Rücken oder sich sonstigen Qualen ausgeliefert fühlt, bittet, wenn die Füße in sein Blickfeld gelangen, um einige aufmunternde Schläge mit dem Kesaku auf die Schultern. Diese Schläge, eingebettet in ein Zeremoniell gegenseitiger Verbeugung, wird vom Schüler als große Hilfe und Zuwendung verstanden, niemals als Tadel oder gar Züchtigung.

In Zen Anekdoten kommt aber auch das andere vor: nämlich, der Meisterschüler baut sich vor dem nichtsahnenden Meditierenden auf und noch ehe der sich versieht, landen auf ihm einige Schläge. In Zen Geschichten enden solche Schläge nicht selten in Erleuchtung. In Rütte las man mit wohligem Entzücken solche Geschichten, und sie wurden von Dürckheim eifrig kolportiert.

Eine Zen-Geschichte ist eines und ungebetene Schläge ein anderes. Nun, was in den Geschichten eine Erleuchtung (wenn auch noch keinen Erleuchteten) bringt, war in Rütte ein Skandal. Han San verscherzte sich das morgendliche Zazen in der Gemeinschaft. Ich vermute, er hatte es darauf angelegt. In dieser Zeit fiel der Satz: Dürckheim spiku spiku nix gut. Ich gestehe, ich habe herzlich mitgelacht, ziemlich respektlos und herzlich. Han San wohnte über mir im 1. Stock unseres Hauses auf dem Prestenberg. Wir nannten es das weiße Haus, weil es sehr auffallend weiß gestrichen war. Es war ein großes zu mehreren Wohnungen umgebautes Bauernhaus. Ich fand, es sah aus wie ein schönes privates Irrenhaus. Ich weiß nicht, warum ich das fand, weil ich nie ein schönes noch privates Irrenhaus gesehen hatte, aber wenn es eins gäb, müßte es so aussehen, dachte ich.

Han San öffnete in der Morgenfrühe sperrangelweit seine Zimmertür zum Treppenhaus. Dann brachte er sich in Stimmung für sein Zazen. Er sang sein textloses Lied an die Schöpfung. Er holte tief Luft, so abrupt und kriegerisch, wie wenn er ein kleines Reptil auf einen Happ verschlingen müsse. Und dann quoll dieser Happen aus ihm heraus wie rollende Felsen, Springfluten, Sturmböen, mächtig und eindrucksvoll und nicht bar vieler melodiöser Zwischentöne wie Geblöke von Kängurus oder Fiepen von Baumhörnchen. Ich konnte mir keine schönere Musik zum Wachwerden vorstellen. Es war der Weckruf an alle Geschöpfe der Welt. Die Insassen des Weißen Hauses flohen nach unten ins Tal, ins Zendo.

Ich für mein Teil gesellte mich, wenn Han San seine Sutren beendet hatte, zu ihm. Er war im Tal persona non grata. Es hieß, er würde während der Meditation rülpsen und es ging sogar das Gerücht, er hätte eines Tages im Beisein Dürckheims einen Furz gelassen.

Dürckheim, anfangs froh, daß ich mich seines Gastes annahm, wurde schließlich, als er merkte, wie ich die Meditation mit Han San genoß,, ja wahrscheinlich derjenigen im Zendo vorzog, immer gereizter mir gegenüber. Er war sichtlich eifersüchtig. Damals hielt er große Stücke auf mich. Es war ihm unerträglich, uns beide so einträglich beisammen zu sehn. Wahrscheinlich jammerten ihm einige die Ohren voll, welch ungehobelter Kerl Han San sei.

Dürckheim bestellte mich zu sich und erklärte mir, ich müsse ihn für die nächsten Wochen im Zendo vertreten (er mußte nach Paris, wo er jedes Jahr 2 Monate verbrachte). Der wahre Grund war, mich von Han San wegzulocken. Dazu wars zu spät. Inzwischen hatte ich mich in Han San verliebt und war sein gelehriger Schüler, in fast allem. Wir legten einen gemeinsamen Garten an, mit tonnenschweren Felsbrocken. Er unterrichtete mich in japanischer Kalligraphie und im Tuschpinselzeichnen. Anfangs hatte er ein Dutzend Schüler, die er in Sumije unterrichtete. Nach und nach blieben sie alle weg. Sein Unterricht erschöpfte sich in grunzenden Tönen, Glucksen, Lachen und Herumwerfen von Blättern mit Zeichnungen drauf, von ihm selbst oder den Schülern. Die aber mochten das nicht, wenn er stoßweise die Bögen durchs Zimmer warf. Ich ahmte ihn nach und warf bald meine Blätter wie er unbesorgt in eine der Ecken des Zimmers oder einfach hinter mich.

Han San saß am Boden, zeichnete, warf sein Blatt durchs Zimmer, zeichnete, warf sein Blatt durchs Zimmer und überließ es seinen Schülern, sein Zeichnen nachzuahmen, wie immer sie´s wollten. Wenn sie ihm ein Blatt hinhielten, um seine Meinung zu erfahren, nahm er´s achtlos zurhand und warf´s im großen Bogen weg. Ganz selten hielt er eine vor seine wachen Äuglein und grunzte etwas Zustimmendes. Die ganze asiatische Belehrung liegt in der Aufforderung nachzuahmen. Für die meisten war es peinigend, wenn sie zum wiederholten mal den Affen, der nach dem Spiegelbild des Monds im Teich greift, auf ihr Blatt zeichneten, das vom Meister unbeachtet in eine Ecke des Zimmers flog.

In einer, der entlegensten Ecken des Zimmers, wuchs einer dieser Papierberge bedrohlich an. Und diese Laxheit, auf Abfall und Unrat übertragen, war´s die uns aneinandergeraten ließ. Han San begann sich anzugewöhnen, Unliebsames, Papier, Teereste, abgenutzte Rohrfedern, Essensreste zum Fenster hinauszuwerfen. Allmählich sammelte sich ein Haufen Unrat an. Als mir der Kragen platzte, stellte ich mich neben den Haufen, klatschte in die Hände und schrie seinen Namen zum Fenster hoch. Wenn ich in Wut gerate, bin ich imstande, Türen einzutreten. Das Fenster über mir öffnete sich, Han San beugte seinen Kopf vor, und ich führte ihm ein Tänzchen auf, herumspringend, Flüche brüllend. Er kam dahergehopst und wir verständigten uns auf eine neue Abfallordnung.

Ich war nie in Japan. So weiß ich nur von Hörensagen, wie zwiespältig die Japaner mit den Dingen des Alltags umgehn. Ali Mitgutsch, der das Land gründlich bereiste, erzählte mir, es sei gar nicht ungewöhnlich, am gleichen Haus vorne mit unendlich großer Hingabe erstellte schöne meisterliche Gartenkunst vorzufinden, hinter dem Haus jedoch einen Haufen von Weggeworfenem, Suppenbüchsen, Colaflaschen usw., jeglicher Ästhetik spottend.

Han San, der erst in seinen späten Jahren in ein Zen Kloster trat, nach Beruf und Ehe, vereinigte in sich diesen Zwiespalt.

Zu mir sagte er: Ro Lu Fu, da er Rolf nicht aussprechen konnte, deutete auf die leergeräumte Stelle an unserem Garteneck, und wir waren uns wieder einig,

Klaus Knaup, der Besitzer eines Hauses im rüttener Tal, das, worin sich das Zendo befand, bereiste als Fotograf mehrfach Japan. Er besuchte und fotografierte Zen Gärten und Klöster, auch das, worin Han San lebte. So brachte er mir nach Jahren einen Gruß von Han San mit, eine Bambusflöte.

Kleiner Nachtrag:

Han San machte sich übrigens nichts aus meiner künstlerischen Arbeit. Ich glaube, er begriff nicht einmal, daß ich malte und radierte. Nie hat er sich die Radierpresse angeschaut, geschweige, erklären lassen. Anfangs störte es mich, immerhin waren wir so etwas wie Kollegen.

Später machte es mir nichts mehr aus, und ich fand´s in Ordnung.

Er hat mir am Morgen nach meinem 40. Geburtstag, den er mitfeierte auf seine Art, ein Schriftbild geschenkt. Er stand vor meiner Tür, ich war noch ziemlich mitgenommen von der nächtlichen Feierei. In einer Hand schwenkte er eine Papierfahne mit Text. Später hab ich mir übersetzen lassen, was draufstand. Es hatte Bezug zu mir und von einigem im Text konnte ich mich geschmeichelt fühlen. Ich hab ihn wieder vergessen, das ist gut. So birgt er sein Geheimnis.

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Eine Antwort zu Han San

  1. Lieber Rolf! Schön, dass es so mysteriöse und unberechenbare Gestalten gibt! Es ist ja alles so wohlanständig, man schläft ein dabei. Und es gibt eben Unterschiede zwischen Menschen und Völkern, und wir könnten daraus lernen; die Vielfalt hat einen Zauber. Ich reise ja in vier Wochen nach Afrika (Uganda), mal sehen, was mir da alles begegnet. Du hast Han San akzeptiert, ihm aber dann doch deine Meinung gesagt. Hab ich gern gelesen, deine Geschichte, ciao Manfred.

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