Glasmurmelspiel

Zeichnung: Rolf Hannes

Das Kind saß auf dem Boden, trotz der Kälte. Konzentriert sah es hinab auf die winzigen Glassphären, die sich um seine schmale Gestalt sammelten. So viele Farben. So viele Möglichkeiten. Und jede einzelne von ihnen würde das Schicksal der ganzen Welt verändern. Langsam strich das Kind mit dem Zeigefinger über eine orangefarbene Murmel. Feuer und Hitze stiegen in ihm auf, verbrannten die feinen Härchen auf seinem Unterarm.

Eine Möglichkeit.

Sein Finger strich weiter, landete auf einer eisblauen Glassphäre. Sofort spürte es betäubende Kälte, die von dem Kontaktpunkt aus seine Finger emporkroch. Kurz zögert es, schüttelt dann jedoch kaum merklich den Kopf und setzt seine Suche fort. Weiter, immer weiter strichen die suchenden Finger. Langsam wurde das Kind ungeduldig. Was sollte es tun? Was wäre die richtige Entscheidung? Schließlich verharrte seine Hand über einer pechschwarzen Murmel. Glatt und schimmernd lag sie da, abseits von allen anderen.

Wäre diese Murmel eine gute Wahl? Niemals zuvor hatte das Kind sie benutzt. Sie fühlte sich richtig an, schwer, kalt, endgültig. Mit einem zufriedenen Lächeln nahm es die Murmel auf, wog sie einen Augenblick lang in der Hand, schloss dann die Augen und stellte sich die Welt vor, für die diese Murmel bestimmt war: Nicht besonders groß und ziemlich blau. Grüne Flecken breiteten sich überall aus, braune Stellen unter weißen Nebelschwaden. Hübsch, aber belanglos.

Bald schon würde sie nicht länger existieren. Das Kind konzentrierte sich, presste die Murmel eng an seinen Körper. Trotz der Nähe blieb die Oberfläche weiterhin eiskalt, entzog der blassen Haut jegliche Wärme. Ohne länger darüber nachzudenken entließ das Kind seine Macht auf die ahnungslose Welt.

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