Von Guy Mettan
Auf der einen Seite der böse russische Bär – auf der anderen der gute unschuldige Westen? Die Entstehung des Desasters in der Ukraine ist komplexer als wir glauben wollen.
In unruhigen Zeiten, wenn niemand mehr versteht, was vor sich geht, und die Rudel der Empörten und Experten den öffentlichen Raum mit Pathos und kriegerischen Theorien schwemmen, ist es angebracht, zu den Grundlagen zurückzukehren – in diesem Fall zu Montesquieu, der zwei wichtige Dinge sagte: erstens, dass man in Sachen Krieg die offensichtlichen Ursachen nicht mit den tieferen Ursachen verwechseln darf; und zweitens, dass man diejenigen, die ihn ausgelöst haben, nicht mit denjenigen verwechseln darf, die ihn unvermeidlich gemacht haben.
Für die große Mehrheit der Öffentlichkeit und der Medien, die durch jahrzehntelange antirussische Propaganda geprägt wurden, und für die Experten auf den Fernsehbühnen, die jegliche strategische Kultur vergessen haben, ist die Ursache für diesen Krieg klar: Putin ist verrückt. Er ist ein Schwerkranker, ein in seinem Kreml isolierter Paranoiker, ein Kriegsverbrecher, ein an die Oligarchen verkaufter Satrap, ein zynischer Größenwahnsinniger, der von der Wiederherstellung des Zarenreichs träumt, eine Reinkarnation von Iwan dem Schrecklichen, ein unausgeglichener, launischer Diktator, der grundlos eine unschuldige Nation angegriffen hat, die von einem netten, demokratischen und mutigen Präsidenten geführt und von rechtschaffenen Europäern und Amerikanern unterstützt wird.
Russland zerstückeln
In diesem Rahmen – der böse russische Bär auf der einen Seite, der gute unschuldige Westen auf der anderen – entfaltet sich die gängige Erzählung: Die Russen bombardieren Babi Jar und Atomkraftwerke, massakrieren Zivilisten und begehen einen Völkermord, während die Ukrainer mit der Unterstützung eines von reinen und selbstlosen «Werten» begeisterten Westens heldenhaft Widerstand leisten.
Das ist es, was seit Ende Februar in den meisten unserer Medien wiedergegeben wird. Es ist in der Tat möglich, dass Putin verrückt ist und dass der Putinismus die Ursache des Krieges ist. Aber sicher ist das nicht. Es könnte vielmehr sein, dass Putin sehr rational ist oder zumindest so rational wie diejenigen, die in den letzten Jahrzehnten Vietnam, Grenada, Panama, den Irak (zweimal), Serbien (zweimal), Syrien, Afghanistan, den Sudan, Libyen, den Jemen und andere Länder auf Kosten von Hunderttausenden von Toten angegriffen, ausgehungert und verwüstet haben.
Es könnte zum Beispiel sein, dass Putin in der Ukraine intervenierte, weil er feststellen musste, dass der Westen alle diplomatischen Optionen (Umsetzung des Minsker Abkommens, Nichtmitgliedschaft der Ukraine in der Nato) wieder geschlossen hatte und ihm keine andere Wahl blieb, wenn er verhindern wollte, dass Russland in eine amerikanische Kolonie umgewandelt würde.
Ohne auf die Ukraine als «historische Wiege» Russlands zurückzugehen, kann man den Ursprung dieses Kriegs auf 1997 datieren. Damals veröffentlichte Zbigniew Brzezinski, der dreißig Jahre lang der einflussreichste Berater der US-Präsidenten gewesen war, sein Buch «The Grand Chessboard». Er legte dar, dass das strategische Ziel der USA darin bestehe, die Ukraine einzunehmen und Russland zu zerstückeln, um seine Macht in Europa zu brechen und es daran zu hindern, sich Deutschland anzunähern. Ausserdem war 1997 das Jahr, in dem die erste Phase dieses Programms mit der Bestätigung des Nato-Beitritts von Polen, Tschechien und Ungarn umgesetzt wurde.
Brzezinskis Buch war ein Echo auf die Theorien von Neokonservativen wie Paul Wolfowitz und Robert Kagan, die ihren Einfluss in den US-Regierungen der Präsidenten George Bush sen. und Bill Clinton ausgeweitet hatten und die Ausschaltung Russlands als Akteur auf der internationalen Bühne forderten. Tatsächlich brach die Nato mit ihrer ersten Osterweiterung das 1990 gegenüber Sowjetführer Michail Gorbatschow gemachte Versprechen, «nicht einen Zoll» nach Osten auszugreifen. Das wird von Zeitzeugen wie dem ehemaligen französischen Aussenminister Roland Dumas und dem ehemaligen US-Botschafter in Moskau, Jack Matlock, bestätigt. Dokumente des National State Archive an der George Washington University belegen den Wortbruch.
Führende amerikanische Geopolitiker waren ob dieser Vorgänge alarmiert, darunter der ehemalige Außenminister Henry Kissinger, der ehemalige CIA-Chef Robert Gates und der Vater der Eindämmung der Sowjetunion, George Kennan. In einem 1997 erschienenen Artikel in der New York Times sagte Kennan richtig voraus, der Wortbruch gegenüber Russland und die Aufnahme der osteuropäischen Länder in die Nato werde sich als «der größte Fehler der amerikanischen Politik nach dem Kalten Krieg» erweisen.
Fortsetzung folgt.