Fall für Therapeuten

Von Boris Reitschuster

Im Focus werden AfD-Anhänger zum „Fall für Therapeuten“ erklärt.
Frontal-Angriff von Jan Fleischhauer

1981 wagte der sowjetische Psychiater Anatoli Korjagin einen unglaublich mutigen Schritt. In der westlichen Wissenschaftszeitschrift „The Lancet“ machte er auf den Missbrauch der Psychiatrie in der Sowjetunion aufmerksam, unter dem Titel: „Patienten gegen ihren eigenen Willen“. Es kam, was zu erwarten war, und womit Korjagin rechnen musste: Mit ihm wurde genau das gemacht, was er beschrieben und beklagt hatte. Die sozialistischen Machthaber ließen ihn einsperren und selbst mit antipsychotischen Mitteln zwangsmedikamentieren.

Der mutige Korjagin hatte eine der schrecklichsten „Traditionen“ im Sozialismus dokumentiert – die er durch seine eigene Arbeit als Psychiater kennengelernt hatte: Dass die Machthaber systematisch Andersdenkende und Dissidenten für psychisch krank erklärten. Sie wurden damit aus der Gesellschaft ausgesondert, aller Rechte beraubt und diskreditiert. Man stellte sie in den Anstalten ruhig. Mit Medikamenten. Und auch mit körperlichen Maßnahmen. Die „Pathologisierung“ von Andersdenkenden, also dass man Menschen, die Kritik an den Zuständen im Lande üben, für psychisch krank oder schlicht verrückt erklärte, ist eines der finstersten Kapitel in der Geschichte des Sozialismus.
Eine der wichtigen Lehren aus der Geschichte ist deshalb, Menschen mit abweichenden und unbequemen Meinungen nicht als psychisch krank oder verrückt hinzustellen. Umso mehr sollte sich dessen jemand bewusst sein, der aus einem System stammt, in dem genau diese schreckliche Methode üblich war. Auch und umso mehr, wenn jemand in diesem System den Herrschenden näher war als den Dissidenten. Wie die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Umso ungeheuerlicher ist es, das sie etwa 2020 in ihrem Format „Die Bundeskanzlerin im Gespräch“ an die finstere Tradition aus totalitären Zeiten anknüpfte.

In der Sendung sagte die Christdemokratin, die ihr politisches Handwerk als Sekretärin, also Führungskader bei der sozialistischen Jugendorganisation FDJ in der DDR gelernt hat, über vermeintliche „Verschwörungsideologen“, wie man heute Regierungskritiker im polit-medialen Bereich nennt: „Das übliche Argumentieren hilft da nicht. Und das wird vielleicht auch eine Aufgabe für Psychologen sein oder für … also wir werden da noch sehr viel erforschen müssen.“

Eine Ungeheuerlichkeit! Die offenbar sehr vielen gar nicht auffiel. Weil man die Geschichte der Sowjetunion und der DDR gut kennen muss, um sensibilisiert zu sein für die Pathologisierung von Andersdenkenden.

Der FOCUS-Kolumnist Jan Fleischhauer ist anders als Merkel nicht in einem sozialistischen System aufgewachsen und daher fehlt ihm wohl diese Sensibilisierung. Seine jüngste Kolumne trägt die Überschrift: „Schrei nach Liebe: Warum AfD-Anhänger ein Fall für den Therapeuten sind.“

In dem Text ist dann zu lesen: „Die Zeitungen fragen immer Politologen oder Extremismusexperten, wie man mit der AfD umgehen solle. Ich würde mal einen Therapeuten zurate ziehen. Selbst die eigenen Wähler trauen der Partei nicht zu, die anstehenden Probleme zu lösen, wie man lesen kann. Die Leute sehen Alice Weidel oder Tino Chrupalla an der Spitze und sagen sich offenbar: Mit denen wird das auch nichts. Trotzdem erklären 20 Prozent in Umfragen, sie wollten ihnen ihre Stimme geben. Das ist nur noch psychologisch zu erklären.“

Nein, werter Kollege: Es ist politisch zu erklären. Und sogar sehr einfach: Sehr viele Wähler sind zutiefst enttäuscht über die „ganz große Koalition“ von Linken bis zur Union in unserem Land und wollen diesen Parteien einen Denkzettel erteilen. Es ist also keine Liebeshochzeit mit der AfD. Und selbst wenn es das wäre – das zum Fall für den Psychotherapeuten zu erklären, ist infam.

Ich hoffe auch sehr, dass die Pathologisierung von AfD-Anhängern einfach ein Ausrutscher war und er sich der Problematik dahinter nicht bewusst war. In solchen Fällen muss aber, finde ich, auch unter nicht-linken Journalisten eine sachliche, faire und gut gemeinte Kritik wie diese möglich sein. Ja, sie ist sogar notwendig. Denn genau das unterscheidet Bürgerliche, Liberale und Konservative von rot-grünen Kulturkriegern: Sie wollen keine Einheitsmeinung. Und sind zum Dialog bereit (zu dem ich Jan Fleischhauer hiermit ganz herzlich einlade).

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