Ortenau war ein Rädchen in der Hierarchie des Ifo-Instituts in München. Was genau er dort trieb und wie es um seine Familie stand, erfuhr ich nie. Ortenau war, wenn man ihm begegnete, jemand, der aus dem Nichts auftauchte und wieder im Nichts verschwand. Er war sich seiner und für die anderen genug. Wenn er in die Türkenstraße kam, in die
kleine Galerie Arion, die ich damals betrieb, gab er stets eine Probe seines Zehnminutenschlafs.
Er kam, setzte sich in ein Sesselchen und schlief seinen Wissenschaftler-Schlaf. Nichts
und niemand konnte ihn dabei stören. Manchmal, in der Phase des Übergangs vom
Wachen ins Schlafen, sagte er ein, zwei Sätze, mit geschlossenen Augen. Dann schlief
er seinen Schlaf, den ich lieber Gelehrten-Schlaf nenne, denn mehr noch als Wissenschaft-
ler war er durch und durch Gelehrter.
In seiner Unterhaltung konnte er sprühen von Geist und Witz. Auch Boshaftigkeiten und Sarkasmen lagen ihm, manchal auf Kosten andrer. Als er wieder einmal aus seinem zehnminütigen Schlaf erwachte, saß ich vor ihm in seiner Nähe. Ich hatte ihn eine Weile beobachtet, weil ich dahinterkommen wollte, wie es jemand schafft, kaum zusammengesunken in einem Sessel, also fast aufrecht sitzend zu schlafen.
Er sah mich unverwandt an und sagte: Wollen Sie wissen, wann das mit meinem Zehnminutenschlaf anfing? Nun denn, so erzähl ich´s Ihnen. Wie Sie wissen, hatten mich die Nazis aus meinem geliebten Deutschland vertrieben, bin in die amerikanische
Armee eingetreten und hab es schließlich zum Offizier gebracht. Als wir in Paris einrückten, hatte ich die Befugnis, in kulturellen Dingen mitzuentscheiden. Vor allem, wenn es um die Hinterlassenschaften von Deutschen ging.
So geriet ich eines Tags in ein Möbellager, worein die Franzosen Hab und Gut der vor und während der deutschen Besatungszeit zahlreich in Paris lebenden Exilanten gestapelt hatten. Meine Aufgabe war, festzustellen, ob es in dem Lager Dinge gab, die möglicherweise früheren Besitzern wiedergegeben werden konnten. Ich machte also eine Bestandsaufnahme, das ging über Tage.
Und so, als ich wieder einmal einen Schreibtisch in Augenschein nahm, stellte sich heraus, es war der Schreibtisch, an dem Heinrich Heine jahrzehntelang während seiner pariser Zeit geschrieben hatte. Diese Entdeckung erschöpfte mich so sehr, ich kreuzte meine Hände über der Schreibtischplatte, legte meinen Kopf darauf und schlief ein. Es war mein erster Zehnminutenschlaf. Während des Einschlafens dachte ich noch, ich bin wieder zuhause.
Sie müssen wissen, alles aus Heines Wohnung war seiner Zeit unter den Hammer gekommen oder auf den Müll gewandert. Wahrscheinlich war dieser Schreibtisch nicht in die Versteigerung geraten, aus welchen Gründen immer. Und später geriet er in Vergessenheit. Ich hatte meinen Kopf darauf gelegt und kurz geschlafen, und was soll ich Ihnen sagen, während dieses Schlafs entschied sich der Schreibtisch für mich. Den Seinen gibt´s der Herr im Schlaf, auch im Zehnminutenschlaf.
Niemandem verriet ich meine Entdeckung. Sofort hätten sich mehrere gemeldet, die ihn sich hätten unter den Nagel reißen wollen. Er war aufgelistet als Schreibtisch unter Schreibtischen, und niemand interessierte sich für ihn. Jeden der verbleibenden Tage im Lager legte ich meinen Kopf für einige Minuten schlafend auf ihn. So überraschte mich einer meiner Vorgesetzten. Major, ich habe für mich den Zehnminutenschlaf entdeckt, sagte ich zu ihm. Sind Sie denn nicht längst fertig mit der Auflistung? fragte er.
Das schon, aber ich hatte in der Nähe zu tun, und so kam ich mein Schläfchen zu halten.
Nehmen Sie ihn mit ins Hotel, wenn er Ihnen so gut gefällt. Sollte sich ein Besitzer melden, können Sie sich immer noch von ihm trennen.
Schweigend und fasziniert, wie immer, wenn Ortenau etwas zu erzählen hatte, saß ich vor ihm. Es wäre jammerschade und garadezu grotesk gewesen, wäre diese Kostbarkeit ins Haus eines Spießers geraten, dachte ich. So aber hatte sie einen würdigen Nachfolger gefunden.
Sie besitzen also Heines Schreibtisch, Heinrich Heines Schreibtisch, hier in München? Ja, sagte er einfach, und jeden Tag lege ich meinen Kopf auf ihn für einen Zehnminuten-schlaf.
Fußnote:
Sich vorzustellen, wie einer mit dem Kopf (er hatte immerhin die gekreuzten Arme dazwischen) auf einer Schreibtischplatte ruhend schläft, ist schwierig. Es klingt nicht allzu glaubwürdig. Aber, nehmen wir an, er hat gar nicht richtig geschlafen, es war mehr ein Tagträumen, und Ortenau wollte möglicherweise eine unmittelbare Verbindung zu dem Schreibtisch herstellen. Und diese Herzensverbeugung hat er in den folgenden Jahren immer wiederholt.
Ortenau war von der Spezies, die auszusterben droht. Wahrscheinlich war er viel zu gebildet, um wirkliche Karriere zu machen, er hatte andres im Kopf. Gekleidet ging er fast nachlässig. Sein Geld verschwendete er an Bücher, Bilder, Musik.
Der Jude E. O. war von der Rasse, wie man sie sich deutscher nicht vorstellen kann. Dieses Schicksal hatte er mit Heine gemeinsam. In einigen Juden verband sich ihre
jüdische Disposition so sehr mit Deutschem, ich möchte behaupten, sie stellten den Idealtypus des Deutschen schlechthin dar: Walter Rathenau, Moses Mendelssohn,Walter Benjamin