Eine Lebensgeschichte Folge 6

An jenem Abend, als ich im Alhambra saß, lief dort ein Film mit Peter Ustinov, wahrscheinlich war er der Hauptdarsteller, den Filmtitel erinnere ich nicht mehr. Etwa nach einer Stunde Spielzeit war auf der Leinwand folgende Szene zu sehen. Ein reich bestücktes großes Büro, ein mit viel Kram beladener übergroßer Schreibtisch, dahinter sitzend der voluminöse Peter Ustinov. Nach dem Schwenk über den ganzen Büroraum die Großaufnahme von Schreibtisch und Ustinov. Das Telefon auf dem Schreibtisch läutet, Ustinov hebt ab, aber noch bevor er etwas sagt, schreit die Platzanweiserin aus dem hinteren Saaleingang, laut und durchdringend: ein Kurt Meier ans Telefon.

Nichts anderes war zu hören, nur dies: Ein Kurt Meier ans Telefon.

Die Stimme der Platzanweiserin paßte so synchron mit der Handlung auf der Leinwand zusammen, für einige Sekunden war dieser Satz Bestandteil des Films. Danach füllte das schallende Lachen der Zuschauer den Kinosaal.


Zeichnung: Kurt Meier

Als ich wie in Trance zum Kassenhäuschen kam, hielt mir die Platzanweiserin den Telefonhörer hin. Es war die Klinik, die mir mitteilte, es könnte sein, daß meine Mutter die folgende Nacht nicht überlebt. Sofort war ich unterwegs zur Klinik. Ein Wärter brachte mich zu einem kleinen Raum, in dem etwa sechs bis acht Betten standen. In einem davon lag meine Mutter. Mein erster Eindruck war: sie ist schon gestorben. Denn in diesem Raum war die Hölle los. In den Betten um meine Mutter herum schrien die Irren durcheinander und fuchtelten wild mit Händen und Füßen. Ein Grausen überkam mich, ich dachte, das gibt es nur in Hollywood, in amerikanischen Filmen.

Meine Mutter lag inmitten dieses ungeheuerlichen Lärms ganz ruhig da. Ich sah genauer hin und wußte, sie atmet ihre letzten Atemzüge, bald hat sie es durchgestanden. Ich konnte nur stumm Abschied nehmen und floh aus diesem Irrsinn.

Noch vor Mitternacht kam ich zur Pforte. Da rief mich die Pförtnerin an: Halt, haben Sie eine Ausgangsbewilligung?

Sie muß das auf meinem Gesicht erkannt haben, was ich aus dem Sterberaum mitgebracht hatte. Nein, ich bin kein Irrer, sagte ich, noch nicht, aber allzu lange darf man sich in diesem Haus nicht aufhalten, um es nicht zu werden.

Sie ließ mich ziehen, und kann man es mir verdenken, ich ging in die nächstbeste Beiz, um mir einen doppelten Schnaps zu genehmigen, ich hatte ihn bitter nötig.

Oh, unverständliche irrwitzige Welt, laß mich allein, ich brauche meine Gedanken für mich.

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