Erik K., ein Ateliernachbar, erzählte mir vor Jahren eine Geschichte, die mich sehr gerührt hat. Es ging um den Tod seiner Mutter, 1954. K. war damals Kunsterzieher im Birklehof, einem bekannten Internat im Schwarzwald. Die Schule hatte ihre Chorwoche, Schüler und Lehrer waren für diese Zeit in einem Landschulheim in der Nähe Freiburgs untergebracht. Dort erreichte K. das Telegramm vom Tod seiner Mutter. Sie war Putzmacherin gewesen und hatte ihrem Mann, einem Schneider, zeitlebens bei seiner Arbeit geholfen: zuschneiden, nähen, bügeln. Nebenbei, bis spät in die Nächte hinein, saß sie an ihren Hüten. Sie starb an der Nähmaschine. Eine kleine Ader im Hirn war geplatzt, sie sank still in ihrem Stuhl zusammen. Wenige Stunden später war sie tot.
K. lieh sich bei Freunden in Freiburg einen Mantel (1954 war ein guter wärmender Mantel etwas Rares), es war ein kühler, regnerischer November.
Erik K. kommt nachmittags an der deutsch-deutschen Grenze an. Er will nach Tangermünde, das liegt in der DDR, Ostzone oder Sowjetzone war die damalige Bezeichnung derer, die in der westlichen Hälfte Deutschlands lebten. Ein Grenzbeamter fordert ihn auf, den Zug zu verlassen. Ziemlich verdattert sagt K.: Meine Mutter ist gestorben. Morgen wird sie in Tangermünde beerdigt. Und zum Beweis hält er dem Grenzbeamten nochmals sein Telegramm hin. Das ist es ja, sagt der, dieses Telegramm kann ich nicht anerkennen. Offensichtlich hatte der Schuldirektor in der Eile des Geschehens den im voraus telefonisch übermittelten Text des Telegramms, mit Schulstempel und seiner Unterschrift versehen, an seinen Lehrer E. K. weitergeleitet, nicht das amtliche Telegramm aus der DDR, das einige Zeit später eintraf, bestückt mit den behördlichen Stempeln. Es tue ihm leid, sagt der Beamte, er sei nicht befugt, ihn weiterreisen zu lassen. Die einzige Möglichkeit, die für ihn bestehe, sei, sich Rat und Hilfe bei der benachbarten Polizeidienststelle zu erbeten. Im übrigen, sagt er, wenn er schon telefonieren wolle nach Tangermünde oder nach dem benachbarten Stendal (um von dort die Zusicherung der Echtheit des Telegramms zu bekommen), so sei dort das einzige Telefon.
Dieses einzige für private Gespräche zugängliche Telefon steht in einem kleinen Holzschuppen, einige Schritte neben dem Bahnhof und wird von einer Polizistin bewacht. Sie bedauert, sie möchte helfen, so gut es geht, aber wie soll sie eine Behörde in Stendal oder Tangermünde anrufen, wenn sie die Nummern nicht kennt. Sie gesteht es rundheraus: sie hat ein Telefon, jedoch kein Telefonbuch. Sie wissen, sagt sie verlegen, ich hab´s schon paarmal beantragt, aber es gibt halt so wenige.
K. geht zum Bahnhof zurück und kann dort einen Schalterbeamten überzeugen, die Telefonnummer der Kreisbehörde in Stendal erfahren zu müssen. Er erfährt seine Nummer und hofft, es möge die richtige sein. Eine Stunde und länger sitzt er neben seiner Polizistin, die unablässig versucht, das Rathaus in Stendal zu erreichen. Plötzlich überfällt ihn der schlimme Verdacht, daß gar kein Zug mehr in Richtung Tangermüde fahren könnte. Aufgeregt läuft er, derweil seine Polizistin bemüht ist, eine Verbindung nach Stendal zu bekommen, wieder zum Schalter des Bahnhofs, dessen bewußt, sich so freizügig alleine gar nicht bewegen, also nur in Begleitung seine Erkundungen machen zu dürfen, denn in der Dunkelheit der Nacht (so geht ihm durch den Kopf) könnte er über die Gleise hüpfen und wäre in der DDR. Es fehlt nicht nur an Telefonbüchern, es fehlt auch an Begleitpersonal, und so unternimmt er seine Sprünge zwischen den beiden Deutschland auf eigene Faust und einigermaßen hilflos.
Richtig, sagt der Mann hinter dem Schalter, der nächste Zug geht erst morgen früh. Wie komm ich denn nach Tangermünde, meine Mutter wird dort vormittags beerdigt. Das sagt Erik K. mehr zu sich selbst, als zu dem Mann hinterm Schalter. Zurückgehend zu seinem Polizei-Häuschen, begegnet er einer rangierenden Lok. Er grüßt hoch zu dem Lokführer, der sich ein wenig aus der Lok herauslehnt. Ohne zu überlegen, wie wenn´s das Natürlichste von der Welt wär: Ich muß nach Tangermünde, oder sagen wir mal Stendal. Du fährst nicht zufällig die Richtung?. Doch erwidert der Mann aus dem Dunkel seiner Lok heraus, die er zum Stehen gebracht hat, Stendal, da komm ich durch. Nimmst mich mit? Ich muß meine Mutter beerdigen, sagt K. und er merkt, daß er den Mann duzt. Klar, sagt der, komm hoch. Und K. klettert ohne weiteres in die Lok.
Und neben diesem Lokführer, mitheizend, mithockend, mitdösend fährt er nach Stendal. Dort bekommt er einen Bus nach Tangermünde. Er läuft vergeblich kreuz und quer durch den Ort, um ein paar Blumen aufzutreiben. Er findet das Haus, worin ihn sein Vater erwartet.
Als er sich auf die Kante des Betts setzt, worin er vor 2 Tagen seine tote Frau aufbahrte, sagt er mit müder, tonloser Stimme zu seinem Sohn: Es ging viel zu schnell, viel zu schnell.