Ein Mensch

An meinem Geburtstag fiel der Regen in dicken Tropfen wie Wachs vom Himmel. Mutter weckte mich mit Spiegeleiern, Orangensaft und aufgetauten Himbeeren. Sie hatte die Marlboro-Schachtel neben das Messer gelegt. Ich lachte, meine Zähne waren schlecht gepflegt. Geburtstag war Ausnahmetag. Die Kerzen schrien DREI und ZWEI und ich zündete mir an ihrem knisternden Feuer eine Zigarette an.

Nicht einmal war ich fortgegangen. Mit acht wollte ich zu den Monstern ziehen, die nachts im Wald vor meinem Fenster flüsterten. Mit sechszehn plante ich, mir die Haare bis zu den Kniekehlen wachsen zu lassen und dann mit einer Rockband durch Asien zu touren. Mit dreiundzwanzig dachte ich, es wäre wirklich an der Zeit. Ich sah mich, mit Anna, Anna mit dem Weizenhaar, wir würden ein Haus bauen, dachte ich. Es wäre unter den Wipfeln hundertjähriger Tannen verborgen. Es hätte die Form eines Teepotts, aufgeteilt auf zwei hübsche Stockwerke. Zwischen Zapfen und Nadeln würden unsere Kinder spielen und erste Worte sagen. Ich ging niemals.

Lisa Paetow - Ein Mensch

© Rolf Hannes

Weder verstand ich es, adäquat darüber nachzudenken, noch, es tatsächlich zu tun. Meine Eltern waren in dieser Hinsicht völlig verschieden von mir. Mutter hieß Inge und wie so viele Menschen war sie so vieles nicht. Sie hörte niemals Tschaikowsky. Sie trug nicht die neusten Schürzen, die mit den Sätzen drauf, die sagten: Achtung, Chefkoch! oder Maul halten und nicken! Anders als die Frauen ihres Nähkränzchens wollte sie auf keinen Fall je in die Stadt der romantischen Liebe. Und sprechen tat sie kaum. Was sie mitteilen wollte, drückte sie mit ihrem Körper aus. Mit ihren fleckigen Händen ergriff sie die Welt. In der Küche stand sie und köpfte Erdbeeren. Es war ihr Weg zu sagen: Von dem Grün lässt man besser die Finger! Schlechte Schularbeiten warf sie auf den Teppich, das hieß: Dummer Junge. Und als ich Anna das erste Mal mit nach Hause brachte, lächelte Mutter und hatte Kuchen gebacken und als sie Anna dann zur Begrüßung lange in die Arme schloss, musste jeder Idiot sie verstanden haben. Während des Kaffees sprach sie kein Wort.

Was sie an verbalem Platz ließ, nahm sich mein Vater. Sein Name war Willie und er konnte rezitieren, bis er bemerkte, dass seine Zuhörer auf ihre Armbanduhren schielten. Heimlich wetteiferte Vater mit den großen Philosophen unserer Zeit, sagte aber, was er sich so vernünftigerweise erdacht hatte niemandem, außer seiner Familie oder eventuell einigen Bekannten. Manchmal bewunderte ich seinen Verstand, der nicht erkannte oder verstand, nein: er sezierte. An anderen Tagen nervte mich seine Stimme. Sie war wispernd und hoch, als hätte jemand eine Radioshow leise gestellt. Nachdem ich mich mit Anna verlobt hatte, beglückwünschte er mich zu meiner guten Wahl. Und als ich erwiderte, na ja, es sei eben passiert, ich hätte da nichts entschieden, da lachte Vater und er schüttelte den Kopf.

Bald – hatte ich zu Anna gesagt. Ich hatte es wirklich gemeint. Aber ich hing in der Wohnung wie die Bilder an den Wänden. Ich gehörte dazu wie der Staub auf den Fensterbänken. Und Anna und ich tauschten bis tief in die Nacht hinein Worte und am Ende hieß es, ich sei eben Wurzeln. Ich war biegsam, roch nach Erde und hielt etwas fest zusammen. Mutter, Vater und ich waren ein Mensch. Bloß einer, aufgeteilt auf drei Körper.

Ich wurde zweiunddreißig und war nie fortgegangen. Mutter schnitt mein Spiegelei, während Vater über die Arbeit sprach und ich fragte: Wo ist da der Sinn, wenn du dich Jahr um Jahr beschwerst, wovon träumst du, sei mal ehrlich? Erst mal träumst du jetzt – so mein Vater – und ich blies die Kerzen aus, bis mir die Luft wegblieb.

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert