Ein Alptraum

Ein Alptraum und seine Erzählung als literarische Ausbeute

Zeichnung: Rolf Hannes

Ich schlendre durch einen Stadtteil Bombays, worin man offenbar die Elendesten der Menschheit abgeladen hatte. Kranke aller Sorten, Lahme, Blinde, Krätzige in verdreckten Kleidern, viele waren eingewickelt in Verbände und Umschläge, viele tätowiert mit Malereien und Sanskritzeichen auf Armen, Beinen, Gesichtern. War es ein Zeichen letzter Würde ihrer Ohnmacht. Gelb war vorherrschend. Es sah aus wie in einem schauerlichen Märchen, brueghelsche Bilder fielen mir ein. Hieronymus Bosch. Der ganze Stadtteil schien ein einziges Hospital für alle Krankheiten dieser Welt zu sein. Aus einem Fenster oberhalb meines Kopfs reichte mir eine dicke, krötige Vettel Socken zu Kugeln geformt. Ich solle sie an die Armen verteilen, sagte sie befehlend zu mir. Einfache Inder sprechen ein Englisch als hätten sie’s von einem Militär auf dem Kasernenhof eingeübt und gleichzeitig lassen sie spüren wie angewidert sie von aller kolonialen Vergangenheit sind.

Wahrscheinlich verwechselte sie mich mit einem Europäer aus einer der Hilfsorganisationen, die sich in Indien dutzendweise bemühen, Armut und Wahnsinn zu mildern oder beides zu vergrößern. Ehe ich mich der Aufforderung erwehrte, sehe ich mich an einige Kranke Socken verteilen. Ich warf sie ihnen zu oder ließ sie einfach zwischen sie fallen. Ich dachte mir: Socken ist das Allerletzte, was sie brauchen, und das sagten mir auch die Augen dieser Gequälten.

Einem jungen, sympathischen Mann im weißen Kittel (Arzt?) fiel ein Brettchen aus der Hand, so ein Fieberkurven-Brettchen, und ich hob’s ihm auf und hatte ein gutes Empfinden dabei: ein Mensch zwischen all den armen Schweinen. Dann folgten groteske, turbulente Straßenszenen, und ich fragte mich, welche Rolle ich in diesem Alptraum spiele. Ich lief wiedermal mit einem Bündel Socken umher, und ich fühlte, sie waren naß.. Da erschien ein Herr in einem hellgrauen Anzug, Bügelfalten in der Hose und im Gesicht, ein richtiges subalternes Angestelltengesicht, ein Abteilungsleiter-Gesicht. Ich hielt ihm die Socken hin und sagte: Fassen Sie mal an, die Socken sind naß. Oder? Er schaute mich empört an. Es war unter seiner Würde, die Socken anzufassen. Er wandte sich ab. Und da hieb ich ihm die Socken, wütend über soviel Arroganz, auf den Kopf. Eh er sich umwandte machte es mir Freude, ihm das Bündel ein zweitesmal mit sanfter Wucht auf den Kopf zu knallen.

Danach war ich entlassen. Er baute seine ganze Machtfülle vor mir auf und sagte, ich sei fristlos entlassen. Damit konnte ich leben.

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