Doppelmoral im Quadrat:„Das ist ein Problem der persönlichen Integrität.“
Von Kai Rebmann
Wie ist es um den allgemeinen Zustand der deutschen Politik und die Integrität der Menschen bestellt, die dieses Land regieren? Allein die Schlagzeilen, die Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) innerhalb der vergangenen acht Tage produziert hat, sind genug Stoff für mindestens zwei Rücktritte. Doch die Ironie bei der Sache ist, dass der Rheinländer – wohl eher ungewollt denn durch geschicktes Kalkül – mit dem zweiten Skandal den ersten praktisch in Vergessenheit geraten ließ.
Es geht natürlich um die offensichtlichen Lügen in Lauterbachs Lebenslauf sowie die wundersame Wandlung vom Impf-Prediger zum PostVac-Versteher. Gerade als sich die Enthüllungen der „Welt“-Redaktion anschickten, für den Gesundheitsminister zum ernsthaften Problem zu werden, holte dieser die Kohlen auf seine ganz eigene Weise aus dem Feuer. Fakt ist jedenfalls: Seit dem Schwurbel-Interview im ZDF redet plötzlich kein Mensch und vor allem keine Zeitung mehr über die Hochstapelei, mit der Lauterbach seine akademische Karriere erst möglich gemacht hatte.
Der eigentliche Anlass für diesen Artikel war und ist ein Video auf Boris Reitschusters Youtube-Kanal. Zu sehen ist dort ein Auftritt von Karl Lauterbach am 23. Februar 2011 vor dem Deutschen Bundestag. Als SPD-Hinterbänkler forderte der heutige Gesundheitsminister mit markigen Worten, ausladenden Gesten und zynischer Mimik voller Vehemenz den Rücktritt des damaligen Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU). Kurz zuvor wurde bekannt, der schon als künftiger Bundeskanzler gehandelte Shootingstar der Union hatte bei seiner Doktorarbeit abgeschrieben. Die politische Karriere von Guttenberg war kurz darauf beendet.
Mit dem Wissen von heute um die eigenen Verfehlungen von Karl Lauterbach ist dieses Video nur sehr schwer zu ertragen. Die Doppelmoral trieft aus nahezu jeder Silbe dieser bühnenreifen Vorstellung. Er wolle von Guttenberg „nichts mehr zur Wissenschaft hören“, wenn dieser „betrügen und lügen darf, wie er möchte“ und ohne Strafe davonkommt, so Lauterbach. Außerdem hätte er dem Minister dessen Geste der Demut und des Bedauerns abgekauft, „wenn er heute konsequent seinen Rücktritt erklärt hätte.“
In ähnlicher Weise äußerte sich Lauterbach dann im Dezember 2020 über Anders Tegnell. Über den obersten Corona-Manager Schwedens sagte der Sozialdemokrat damals: „Tegnell lag fast immer falsch. Und das sehr selbstbewusst. Erstaunlich, dass er noch im Amt ist. Einen ehrenvollen Rücktritt hätte ihm niemand vorgeworfen.“
Es handelte sich bei seinem Frontalangriff auf Karl-Theodor zu Guttenberg im Jahr 2011 also keineswegs um einen einmaligen Anfall von Doppelmoral. Sie scheint dem Wesen des Karl L. geradezu inhärent zu sein. Reflexartig Rücktritte fordern und dann selbst am Amt kleben wie die Pattex-Extremisten auf Deutschlands Straßen.
Denn eines scheint klar: Verglichen mit den Skandalen und folgeschweren Fehleinschätzungen, die Karl Lauterbach in wesentlichen Teilen mitzuverantworten hat, wirkt das Abschreiben bei einer Doktorarbeit wie eine Bagatelle. Und in Bezug auf Anders Tegnell spricht aus heutiger Sicht einiges dafür, dass in Schweden deutlich mehr richtig als falsch gemacht wurde.
Die „Welt“-Journalistin Elke Bodderas, die an der Enthüllung der Lebenslauf-Lüge von Karl Lauterbach mitgewirkt hat, betont, man kann diese Falschangaben nicht mehr als „Jugendsünde“ abtun. Denn: Diese verdrehten Tatsachen ziehen sich laut der Kollegin durch den gesamten Lebenslauf. „Das ist ein Problem der persönlichen Integrität“, fasst Bodderas das Ergebnis ihrer Recherchen zusammen.