Bild Frau mit rotem Tuch: Rolf Hannes
Sie verließ den Englischen Garten in Richtung Marienplatz und stolperte über Menschen. Menschen mit noch gräulichen Gesichtern, gierig nach Sonne, Sonnenstrahlen aufleckend, Eis schleckend. Sie sind aus ihren Winterlöchern hervorgekrochen und probieren sich durch die Frühjahrsmode, halten sich vor Ladenspiegeln skeptisch testend die neuesten Stoffe in den allerneuesten Farben und Formen vor die Leiber. Sie flanieren oder hetzen mit Tüten bepackt, prophylaktisch Regenschirme unter den Arm geklemmt, Einkaufszettel ins Gehirn geritzt und vergessen, dass all die Osterhasen in den Taschen schmelzen und ersticken. Eva stellt sich die Krokant-, Nougat- und Marzipanhasen vor, die sich durch die Verpackungen nagen, aus den Einkaufstaschen hüpfen und in ihren Körben Ostermenschlein tragen.
Eva lief dem Ostersamstag davon und der U-Bahn in den Schlund. Ihr fiel eine Frau auf. Sie stieg an derselben Station aus. Sie ließ die Frau vor sich herlaufen, wollte ihr nicht nachlaufen, hatte aber denselben Weg. Die Frau steuerte auf das Haus der Kunst zu. Die Expressionismus-Ausstellung. Beide kauften sich eine nicht ermäßigte Eintrittskarte. Die Frau erinnerte Eva an keine Frau, die sie kannte. Die Unbekannte erinnerte sie daran, dass sie die Bilder lieber zu zweit anschauen würde. Sie schlenderte durch die Räume, um sich einen Grobüberblick zu verschaffen und zu beobachten, vor welchen Bildern die Fremde stehen blieb. Sie hatte sich auf einer Bank vor einem Zwei-Frauen-Akt von Otto Mueller niedergelassen. Eva musste sich zwingen, das Bild und nicht die unbekannte Betrachterin zu betrachten. Die unbekannte Frau, die in den Akt versunken schien, verschmolz für sie mit dem Bild, sodass ein neues Gemälde entstand. Sie nannte es Frau vor Aktbildnis oder Die Sehnsucht der Betrachterin. Eva wollte sie nicht mehr beachten und ging auf die andere Seite des Raums. Wenig später kam sie ihr entgegen und blickte ihr, wie zwischen den Bildern zum Luftholen aufgetaucht, kurz in die Augen. Sie sagte kein Wort zu der Fremden, obwohl es leicht gewesen wäre, eine kunstbeflissene Unterhaltung anzufangen, das Schweigen um die sprechenden Bilder zu brechen, um über die Bilder zu sprechen. Gleich den Galeriebesuchern, die anstatt in die Bilder zu fallen, darauf verfallen, in ihren Katalogen herumzublättern, damit sie gewappnet wären, falls jemand sie fragte, warum sie dieses oder jenes Gemälde länger und intensiver als gewöhnlich betrachteten: Oh, Sie wissen nicht, dass es sich um ein kürzlich in einer Privatsammlung entdecktes Frühwerk handelt. Betrachten Sie doch die Gesamtkomposition und die Farben, diese Bäume in diesem fast revolutionären Purpurrot, für die damalige Zeit versteht sich. Und auch die Ausgewogenheit bei diesem Bild! Pardon, ich meine natürlich die fehlende Ausgewogenheit, die ganz bewusst Spannung erzeugen soll.
Es musste noch etwas anderes sein, etwas Unspezifisches, Unbeschreibliches. Eva fragte die Fremde nicht nach der Meinung über den Frauenakt, sie fragte sie auch nicht, ob sie schon einmal etwas Unbeschreibliches erlebt hätte. Sie schwieg, weil sie dort angelangt war, wo Sprache das Anziehende und Faszinierende zerstörte, das sie bei manchem der Bilder überfiel, genauso wie bei jener Unbekannten, die inzwischen die Ausstellungshalle verlassen hatte. Auch sie ging hinaus und wollte sich eine Kunstpostkarte von dem Zwei-Frauen-Akt kaufen. Im Museumsshop traf sie erneut auf die Fremde, die durch den Laden schlich, als ob sie einen unbeobachteten Moment abwarten wollte, um eine oder einige Karten zu stehlen.