Liebe Leser, wir veröffentlichen diesen interessanten und sehr aktuellen Kommentar aus der Budapester Zeitung mit Erlaubnis von deren Chefredakteur und Herausgeber, Jan Mainka. Die deutschen Medien haben in ihrem Kampf für die ungarische Demokratie ein neues Kapitel aufgeschlagen. Im Juni 2021 verkündeten sie, die Homo- und die Transsexualität sei ein europäischer Wert, der in Ungarn mit Füßen getreten werde.
Eine zweiteilige Gesetzesnovelle
Der auserkorene Täter, das Budapester Parlament, hatte am 15. Juni 2021 mit 157 Ja-Stimmen bei einer Gegenstimme, einer zweiteiligen Gesetzesnovelle zugestimmt. Darin wurden gleich zwei Themenbereiche geregelt: einerseits jener der Pädophilie, andererseits jener der Verbreitung von pornografischen und solchen Inhalten, die Homosexualität und Geschlechtsumwandlung popularisieren.
Es sei “Orbáns Schande“, präzisierte ein FAZ-Kommentator, wobei er die Notwendigkeit einer fachpolitischen Analyse nicht einmal aufwarf. Den eigentlichen Zweck der Vorverurteilung entlarvte Katarina Barley, sozialdemokratische Vizepräsidentin des EU-Parlaments: Im Deutschlandfunk rief sie zum Kampf gegen Viktor Orbán auf breitestmöglicher Front auf. Das Gesetz sei nur ein neuer Farbtupfer im rundum verdorbenen Politik-, Rechts- und Kultursystem Ungarns, meinte sie. In ihrer tieferen Bedeutungsschicht handelt die Angelegenheit von etwas, wovon die deutschen Medien und die Führungsriege der EU nicht öffentlich sprachen. Der Redaktionsleiter des ARD-Politikmagazins Monitor forderte schon vor der Abstimmung im ungarischen Parlament in einem Twitter-Beitrag den DFB auf, “Herrn Orbán“ für das Verbot der “Werbung“ für Homosexualität symbolisch zu rügen: Bei der Fußball-EM sollte vor dem Spiel zwischen Deutschland und Ungarn am 23. Juni 2021 der Münchener Veranstalter unter den Zuschauern Fähnchen in Regenbogenfarben verteilen. Diesen Einfall spann ein grüner Stadtrat umgehend gegenüber dem sozialdemokratischen Oberbürgermeister weiter. Daraufhin beantragte Dieter Reiter bei der zuständigen UEFA bereits eine Beleuchtung der Allianz-Arena in Regenbogenfarben.
Doppelter Nutzeffekt
Die gegenseitige Bedingtheit zweier politischer Schlachten verlieh dieser Aktion eine über das übliche deutsche Ungarn-Bashing hinausgehende Explosivität. Die Presseangriffe dienten einerseits dem mittelfristigen Ziel eines Budapester Regierungswechsels und der europäischen Isolierung von Ministerpräsident Viktor Orbán. Andererseits waren sie Teil des deutschen Bundestagswahlkampfes. Auch die CSU gab dem Mehrheitsdruck der Medien nach. Nachdem die UEFA den Antrag der Münchener Stadtführung abgewiesen hatte.
Selbstbewusstes ungarisches Parlament
Das ungarische Parlament hat souverän sein gesetzgeberisches Recht in einer Agenda angewandt, in der voraussehbar war, dass das Abstimmungsergebnis den Widerstand der maßgeblichen Kreise der EU und der ihr zugeneigten Medien erregen würde. Die traditionelle Familie ist ein Musterbereich, in dem sich Budapest der Vorstellung eines zentralisierten europäischen Staatenbündnisses entgegenstellt.
Die deutsche Schimpftirade
Die deutsche Schimpftirade gegenüber Ungarn und seiner Regierung hatte im Frühsommer 2021 eine neue Stufe erreicht. Dabei werden die Erben deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts von zwei Arten der Beklemmung angetrieben. Mit der Brandmarkung des einstigen Waffenbruders grenzen sich die Wortführer der veröffentlichten Meinung von der eigenen Geschichte ab. Gleichzeitig entfernen sie sich von ihrer Nation in die Erhabenheit eines vorgegaukelten Europäertums.
Deutschland ist Ungarn verpflichtet
Die fortwährende Beteuerung der deutschen politischen Reinheit beschwört aber auch eine schöne zeitgeschichtliche Ereignisreihe aus der politischen Psychologie herauf: Deutschland ist Ungarn verpflichtet und deswegen befangen, wiewohl immerhin geneigt, über seinen historischen Nachbarn aus einer Großmachtrolle heraus zu urteilen.
“Ich muss ständig dieses eine Menschenrechtsauge zudrücken, in der Türkei, in China“, steht in einem fiktiven Brief Angela Merkels an Joachim Löw, den ehemaligen Trainer der deutschen Fußballnationalmannschaft. “Aber in diesem Fall jetzt mit Ungarn? Nein, da mache ich es ganz weit auf! Da ist es mir auch egal“, setzt die Glosse des Dramatikers Moritz Rinke in der FAZ fort, “dass ich erst durch die Grenzöffnung in Ungarn Kanzlerin werden konnte, ohne Ungarn hätte es ja keinen Mauerfall gegeben. Aber es ist mir bei der Sache mit dem Regenbogen egal, selbst dass unsere deutschen Autos in Ungarn zusammengebaut werden, ist mir egal.“
Zusammenstoß zweier Weltbilder
Diese mehrfache Gleichgültigkeit verblüfft einen mit der Erkenntnis, dass das Problem weit über das ungarische Kinderschutzgesetz hinausweist. Zwei Weltbilder stoßen zusammen, wie auf dem Rasen, wo nach dem Länderspiel die ungarische Nationalmannschaft mit ihren Anhängern die Hymne sang, während die deutschen Spieler mit gesenkten Köpfen in ihre Umkleidekabinen zogen. Der Autor ist Historiker und Politologe. Er ist Direktor des Ungarischen Instituts und der studienbegleitenden Zusatzausbildung “Hungaricum“ der Universität Regensburg. Seit drei Jahrzehnten beschäftigt er sich unter anderem mit dem “Ungarn-Bild in Deutschland“.