Die Brechnuß

Auf dem Katzenbuckel, der höchsten Erhebung des Odenwalds, hatte in den Zwanzigern und Dreißigern des vorigen Jahrhunderts ein Schäfer namens Bukowski seine Lieblingsrast. Manchmal blieb er mit seiner Herde dort in lauen Herbstnächten selbst übernacht. Er war vernarrt in die Lieblichkeit dieser Odenwälder Landschaft mit ihren sanftgeschwungenen Bergrücken. Wenn er in aller Frühe wach wurde, kletterte er aus seinem gesteppten Schafsfellmantel, holte sich ein wenig Tau von einigen Sträuchern in die Handflächen, strich damit übers Gesicht, rieb sich die Augen ein zweites Mal und wußte, sie waren bereit, sich am Anblick über die anderen Hügel hinweg bis ins Neckartal zu erfreuen.

Der Schäfer versorgte in seiner Herde auch sieben bis zwölf Schafe des Klosters Neuburg, sozusagen in Obhut. Doch unter den Schafen, die er seine eignen nannte, gab es einige von einem Bauern aus Buchen. Dieser Bauer war ein etwas sehr hitziger Kerl. Er behauptete öfters, wenn ihm die Schafe, so wie es vereinbart worden war, Ende des Frühjahrs zurückgebracht wurden, das seien nicht die seinen, er hätte größere, stämmigere, gesündere gehabt, und überhaupt hätte er einige neugeborenen Lämmer mehr erwartet. Bukowski, der sich mit seinen Schafen gut verstand und sie auch alle kannte, wurde dann unsicher. Waren das nun die Schafe und Lämmer des Bauern, oder waren sie´s nicht. Schafe sehen sich sehr ähnlich, auch in ihren Eigenschaften, ihr Blöken ist kaum zu unterscheiden.

Bukowski sagte zum Bauern: Sieh her, wir haben sie doch an den Ohren gekennzeichnet. Diese Kerben, solche haben nur deine Schafe. Mehr Lämmer haben sie nicht geworfen. Das sagst du, erwiderte der Bauer, schon ziemlich in Fahrt, du kannst mir alles weismachen, diese Kerben sagen gar nichts.

Mit dem Kloster kam der Schäfer besser zurecht. Die Mönche waren sehr zufrieden mit seiner Arbeit, und hin und wieder fragte einer von ihnen, ob er, Bukowski, nicht ins Kloster eintreten wolle, dann bekäme er und seine Herde ein festes Zuhause. Bald wären die Stallungen so ausgebaut, da sei für seine Herde genügend Platz. Ja, sagte Bukowski, da ist was dran. Eine Familie hab ich nicht, ein eigentliches Zusause auch nicht. Ich liebe die Stille, euer einfaches Leben gefällt mir. Ich werd´s mir überlegen. Und mein treuer Hund wird sich auch ins Klosterleben fügen, nehme ich an.

Das Kloster hatte eine bewegte Vergangheit hinter sich, bis zuletzt unter immer neuen Besitzern die der klösterlichen Askese geweihten Räume in Salons umgewandelt worden waren. Nun versetzten die wiedereingekehrten Benediktiner nach und nach die ehrwürdige Abtei in den früheren Zustand. Den ehemaligen Klostergarten, den sie als eine herrschaftliche Grünanlage vorfanden, verwandelten sie in einen Gemüse- und Kräutergarten.

Wenn die Lämmer zur Welt kamen, so um die Weihnachstszeit, hielt der Schäfer seine Herde unten im Tal in einem alten Schuppen beisammen. Sommers hatte er mit einigen Laienmönchen von Neuburg soviel Heu und Stroh in den Stall geschafft, wie es fürs Fressen und Liegen und Lämmerwerfen nötig war. Das war die Zeit, wo Bukowski zum Lesen kam. Er hatte einige alte Schwarten schon zum xten Male gelesen, aber er las sie nochmal. Er war wie ein Kind, das die Geschichte, die es längst kennt, wieder und wieder hören will. Sein Lieblingsbuch war Meister Humphreys Wanduhr von Charles Dickens. Wenn er nicht las, döste er vor sich hin, guckte nach seinen Schafen, war besorgt um die Mütter, die ihre Lämmer schon hatten oder bald bekamen, summte seine Liedchen, strickte riesige Schals aus gesponnener, häkelte Wämser und Pantoffeln aus ungesponnener Wolle. Er hatte sich einen kleinen Anbau gezimmert. Darin war ein Öfchen mit einem durch den ganzen Raum gehenden Rohr, ein Tisch, der zur Hälfte von Büchern besetzt war, davor ein Hocker und in einer Ecke eine Pritsche voller Schafswollmäntel und –decken. In einer andern Ecke lag ein Haufen ungesponnener Wolle, die er, so natürlich wie sie war, von allen Spreiseln säuberte, dann auffaserte und überm Knie zu Fäden rollte. In die Wolle hineingekuschelt lag sein Hund Bobbi, ein ungarischer Schäferhund. Sagte er zu ihm, hier bleiben wir, halt die Herde zusammen, dann rührte kein Schaf sich mehr vom Fleck. So genau nahm er´s als Hirtenhund, Menschen behandelte er freundlich, nie hätte er einen angefallen.

Die Verabredung mit dem Kloster war so: Jeweils zwei der älteren Schafe und drei der letztjährigen Lämmer lieferte Bukowski vor Ostern im Kloster ab. Gleichzeitig auch Selbstgestricktes und Gehäkeltes, das im Kloster begehrt war. In Empfang genommen wurde das alles von Bruder Ägidius, er war der unter den Mönchen, der sich am besten auf Ackerbau und Vieh verstand. Er war gleichfalls für den Kräutergarten zuständig. Und es verging kein Besuch des Schäfers, wo er sich nicht die Neuerungen darin hätte zeigen und erklären lassen. Er hatte, angestachelt durch die Begegnungen mit Bruder Ägidius, ein eignes Kräutergärtchen neben seiner Behausung angelegt und erweiterte es von Jahr zu Jahr dank der Pflänzchen, die ihm Ägidius schenkte.

Eines Tags hielten die beiden während sie durch den Kräutergarten schlenderten vor einem Strauch an. Das ist ein kleiner Brechnußstrauch, erklärte der Mönch. Es heißt, die Jesuiten hätten im 17. Jahrhundert die Samen aus China mitgebracht. Er beginnt gerade zu blühen und trägt im Herbst Früchte, die wie Zitronen aussehn. Unser Mönch, unser Apotheker, schwört auf sie. In seinem Labor extrahiert er einige Bestandteile aus den Kernen und verabreicht den Sud, den er daraus herstellt, gegen Magenbeschwerden, Krämpfen, Erkältungen und Darmkrankheiten, streicht ihn sogar auf Wunden. Er beliefert viele Klöster mit dieser Arznei und ist sehr stolz darauf. Seine Rezeptur hält er geheim, denn er sagt, wenn sie in falsche Hände gerät, könne sie Unheil anrichten. Wie immer, sagte Ägidius, das was heilt, kann auch, in falschen Händen, Unheil anrichten.

Im darauffolgenden Herbst ließ der Schäfer sich eine Frucht dieses Brechnußstrauchs schenken. Gleichzeitig kaufte er in der Klosterapotheke ein Fläschchen, worauf stand: Extrakt der Bitteren Fiebernuß. Der Apotheker schrieb ihm auf einem Zettel genau auf, wieviel Tropfen er bei welcher Krankheit einnehmen dürfe. Das war ziemlich einfach, denn der Schäfer kannte keine andre Krankheit, als hin und wieder eine Erkältung. Fühlte er sich ein wenig fiebrig, da er sich unterkühlt hatte, nahm er die vorgeschriebene Anzahl Tropfen, und sofort verspürte er Linderung.

Das nächste Frühjahr kam, und wiederum der Ärger mit dem Bauern aus Buchen. Wenn er nicht endlich aufhöre, ihn zu betrügen, schrie er, käme er selbst hin zu seiner Bruchbude, um nach dem Rechten zu sehn. Dann werde er schon herausfinden, welche Schafe ihm gehörten oder nicht. Bukowski, der diesen unnötigen Streit leid war, hatte, um allem vorzubeugen, ein Schaf mehr dabei, als dem Bauern zustand. Das machte den erst recht argwöhnisch. Ich will kein andres Schaf von dir, krakeelte er, ich will meine eignen zurück, vor allem ihre Lämmer.

Wenige Tage darauf erschien der Bauer wirklich vor Bukowskis Schuppen. Er war gerade dabei, den Saft, den er aus seiner Zaubernußfrucht (wie er sie nannte) ausgekocht hatte, in eine Flasche zu füllen. Wenn der klösterliche Trunk ihm half, glaubte er, so würde er auch seinen Schafen nützlich sein. Manchmal lahmte ein Tier, ein andres hatte keine rechte Lust zu fressen. Der Apotheker hatte ihm versichert, die Arznei helfe auch gegen Appetitlosigkeit. Nun denn, vielleicht erfinde ich ja ein Universalheilmittel. Solche Gedanken gingen ihm durch den Kopf, als der Buchener erschien und gleich fluchte: Wo ist dein verdammter Hammel? Wenn er mir hier nicht zu Lämmern verhilft, dann nehm ich ihn mir halt mit. Er versuchte, sich des Schafsbocks, der abgesondert von der übrigen Herde in einem kleinen Verschlag stand, zu bemächtigen. Der ließ sich nicht am Kopf fassen, schon gar nicht von einem Fremden, stieß heftig zu, drehte sich ein paarmal um die eigne Achse und schlug mit seinen Hinterbeinen aus, so daß der Mann strauchelte und der Länge nach in den Mist hineinschlitterte.

Wie wenn er durch sein Hinfallen zur Besinnung gekommen wäre, überlegte sich der Bauer eine neue Taktik. Hilf mir auf, sagte er, dein Bock hat mich fast umgebracht. Behalt die Bestie, gib mir einen Schluck zu trinken. Du wirst doch einen guten Schluck im Hause haben? Ja, sagte Bukowski, und noch bevor er mit seinem Besucher einige Obstler trank, tupfte er ihm den Rücken ab mit seiner neuen Erfindung. Wenn das Zeugs so gut ist für innen wie für außen, wie du meinst, dann schenk mir die Flasche als kleine Wiedergutmachung, sagte der Bauer. So geschah´s. Der Schäfer trennte sich nur ungern von seinem selbstgebrauten Saft, doch er war froh, seinen Widersacher loszuwerden. Nach Wochen erreichte ihn die Nachricht, ein Bauer aus Buchen sei eines plötzlichen Tods gestorben, wahrscheinlich sei ihm das Herz stehengeblieben in einem Tobsuchtsanfall.

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