Fremdsein öffnet Perspektiven.
Angesichts der Regelungsdichte spätmoderner Gesellschaften ist es naheliegend, Entfremdung als Verlust von Freiheit zu beschreiben. Allerdings übersieht diese Diagnose, dass das moderne Konzept von Freiheit selbst schon ein Produkt einer Entfremdungserfahrung ist. Arnold Gehlen hat darauf aufmerksam gemacht. Deshalb hat das Fremdsein gegenüber der Welt auch ein hohes Emanzipationspotential. Es öffnet Perspektiven. Es setzt in Distanz, wo unter Umständen zu viel Nähe war. Entfremdung schafft Freiheit. Doch in einer emanzipationsfixierten Konsumgesellschaft mutiert Freiheit selbst zum Zwang, der in die endgültige Entfremdung zurückführt.
Wir werden unsere Freiheit und Autonomie nur dann wahren, wenn wir das Fremdsein, die Entfremdung aushalten. Die Vorstellung, man könne mit Hilfe von Selbstverwirklichungsstrategien, Selbstoptimierungskonzepten, Eskapismus oder einfach dem richtigen Lifestyle sich selbst finden, ist lächerlich und die Sehnsucht nach dem Authentischen naiv. Alle ideologischen, politischen oder konsumistischen Versuche, die Entfremdung zu überwinden, scheitern zwangsläufig. Das Ergebnis ist der endgültige und umfassende Autonomieverlust, der sich selbst nicht mehr wahrnimmt, da er sich als selbstbestimmt begreift. So schraubt sich der Mensch der Moderne in eine Spirale der Selbstentfremdung hinein, in der die Methoden zur Selbstbefreiung ihn immer weiter in ein Netz gesellschaftlicher und ideologischer Abhängigkeiten treibt. Die allgegenwärtige Selbstverwirklichungspropaganda wird zum Kerker.
Autonomie und wirkliches Selbstsein kann es daher nur im Zustand bewusster Entfremdung geben. «Nur Fremdheit ist das Gegengift gegen Entfremdung», notiert daher Theodor W. Adorno in seinen Minima Moralia. Fremdheit und Distanz aber setzen Einsamkeitsfähigkeit voraus und die Bereitschaft, sich loszusagen von vermeintlichen gesellschaftlichen und moralischen Verpflichtungen, mit denen die Apologeten des Zeitgeistes Freiheit im Keim ersticken. Nicht ohne Grund formuliert Ernst Jünger in seinem Essay «Der Waldgang»: «Im Menschen fällt die Entscheidung; niemand kann sie ihm abnehmen.»