Dialektik der Moderne Folge 3

Die Moderne wird endgültig zu ihrer eigenen Karikatur.

Die Dramatik dieser Situation wird nicht dadurch geringer, dass diese Entfremdungssymptome in der Konstitution des Menschen selbst wurzeln. Er ist das entfremdete Wesen schlechthin. Die Idee eines authentischen, nicht entfremdeten Lebens ist daher eine Illusion. Schon der banale Hinweis darauf, dass – soweit wir wissen – Homo sapiens das einzige Wesen ist, das nach dem Sinn seiner Existenz fragen kann, zeigt, dass zum Menschsein das Gefühl der Fremdheit gegenüber der Welt gehört. Man hat diese Beobachtung in der Vergangenheit unterschiedlich umschrieben. Friedrich Nietzsche sprach vom Menschen als dem «noch nicht festgestellten Tier», Arnold Gehlen vom «Mängelwesen» und dessen «Weltoffenheit», und Helmuth Plessner prägte die Formel von der «natürlichen Künstlichkeit» des Menschen.

Diese Künstlichkeit und Weltoffenheit macht den Menschen frei. Weder ist er an seine Instinkte gebunden noch an einen speziellen Lebensraum. Menschen können Pläne machen, sie können sie wieder verwerfen oder korrigieren. Sie haben Visionen und Ideen. Sie können ihre Umwelt verändern, Felder anlegen, Wälder roden und Straßen bauen. Das alles kann auch zerstörerisch sein und dazu angetan, die Lebensgrundlagen des Menschen selbst zu vernichten. Doch zunächst einmal sind diese Fähigkeiten Ausdruck von Intelligenz und Gestaltungswillen. Es ist unsere Künstlichkeit, die uns Kulturräume, Städte, Paläste, Kunstwerke und Epen schaffen lässt. Erst die Entfremdung macht den Mensch zum Menschen.

Narzisstische Kränkung

Doch der Mensch ist nicht nur fremd gegenüber der Welt. Er ist auch fremd gegenüber sich selbst. Die eigene Offenheit, das Unabgeschlossene verunsichern ihn doch und verleiten ihn zu der Hoffnung oder Vermutung, irgendwo gäbe es sein wahres Selbst – oder zumindest einen Ort, eine Tätigkeit, einen anderen Menschen, bei dem er sich selbst finden könne. Das jedoch ist ein tragischer Irrtum. Die menschliche Existenz ist von radikaler Kontingenz. Allenfalls kurzfristig gelingt es uns, die Illusion eines festgefügten Lebens aufzubauen, indem wir es in ein bürgerliches Gerüst pressen. Aber genau dieses Gerüst wird vielen langfristig zur Last, da sie es als selbstverwirklichungsfeindlich erleben. Also suchen sie ihre tatsächliche Identität in einem neuen Leben, neuen Hobbys, neuen Lebenspartnern oder neuen Berufen. Doch das wahre, eigentliche und nicht entfremdete Leben gibt es nicht.

Die narzisstische Kränkung, die mit dem Scheitern des Selbstfindungsprojektes einhergeht, zeigt sich jedoch nicht nur in Form äußerer Infantilisierung, sondern vor allem in psychischer Regression. Man suhlt sich in seinen Befindlichkeiten und beschäftigt sich vorzugsweise mit dem eigenen Innenleben. Es entsteht eine ganze Industrie von Beratern, Therapeuten, Analytikern und Coaches, die dem nach sich selbst suchenden Selbst den Weg aus dem Irrgarten unbewusster Blockaden und Hemmungen weisen sollen. Das Karussell narzisstischer Selbstbespiegelung dreht sich immer schneller und schneller. Ursache des jeweiligen Unwohlseins ist nicht etwa die eigene infantile Persönlichkeitsstruktur, die das selbstmitleidige Ich in eine Infantilisierungsspirale treibt, sondern – wahlweise – die Eltern, die Schule, der Partner oder die Gesellschaft.

In Folge dieses zum Scheitern verurteilten Befreiungsversuches sind inzwischen auch die letzten Restbestände alteuropäischer Kultur nahezu abgeräumt und desavouiert. Doch der Mensch ist noch immer nicht bei sich. Die Rebellion im Namen von Emanzipation und Selbstsein greift nicht mehr. Sie will überwinden, wo es nichts mehr zu überwinden gibt. Sie will entlarven, wo alles entlarvt ist.

Letztlich zerschellt die Überwindung des umfassenden Entfremdungsgefühls an seinen eigenen Widersprüchen. Denn je heterogener eine Gesellschaft wird und je schneller soziale Beziehungen, Institutionen und Präferenzen sich wandeln, desto kleiner wird die Basis an gemeinsamen Überzeugungen, Ritualen und Regeln und umso schneller schwindet damit die Gewissheit von Stabilität und Orientierung. In dem Versuch, die dadurch entstehende Verunsicherung zu kompensieren, organisiert sich die Gesellschaft in immer neuen Strukturen. Der Komplexitätsgrad nimmt zu. Die damit einhergehende Unübersichtlichkeit und Regelungsdichte droht den Einzelnen zu anonymisieren und ohnmächtiger zu machen. Was einmal Aufklärung war, geht unter in einem gewaltigen Rauschen. Am Ende steht der verlorene Mensch, der seine Verlorenheit nicht einmal mehr bemerkt. Schon Herbert Marcuse hat hellsichtig darauf hingewiesen, der Begriff der Entfremdung werde fraglich, «wenn sich die Individuen mit dem Dasein identifizieren, das ihnen auferlegt wird». Das falsche Bewusstsein wird zum wahren Bewusstsein. Ideologie geht in Wirklichkeit auf.

Dass die Entfremdungskritik seit Jahrzehnten aus der Mode gekommen ist, kann vor diesem Hintergrund nicht überraschen. Denn Entfremdungskritik setzt ein Bewusstsein für Entfremdung voraus, also etwas, das in den hochtechnisierten Emanzipationsgesellschaften westlicher Prägung nur noch unterschwellig vorhanden ist. Allenfalls im Konsumverhalten deutet sich bezeichnenderweise die Sehnsucht nach Authentizität an. Denn auch das Ursprüngliche und Unverfälschte wird konsumierbar. Jeder Bioladen, jedes handgeschmiedete Küchenmesser und jedes das herrliche Landleben beschwörende Hochglanzmagazin ist ein Zeugnis dieses Bedürfnisses nach dem Echten. Der an den Segnungen der Zivilisation zweifelnde Wohlstandsbürger bekämpft seine unterschwellig empfundene Entfremdung mit Ökoprodukten, handgenähten Arbeiterstiefeln und Craft Beer.

Schluß folgt morgen.

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