Dialektik der Moderne Folge 2

Die allgegenwärtige Selbstverwirklichungspropaganda wird zum Kerker.

Aber diese Identität ist fragil. Der Selbstentwurf allein aus dem Zeitgeist und den persönlichen Vorlieben heraus muss scheitern. Das Projekt totaler Emanzipation und individueller Selbstfindung droht ins Leere zu laufen. Zudem sind Identität und Selbstwertgefühl auch in einer Emanzipationsgesellschaft von der Anerkennung der Mehrheit abhängig: Der postmoderne Individualist will Applaus für seinen Individualismus. Lediglich toleriert zu werden verschafft keine Identität. Selbstbestätigung vermittelt allein die Akzeptanz. Man will geliebt, zumindest anerkannt werden. Das hat erhebliche normative Konsequenzen: Schutzrechte von Minderheiten mutieren zu Anspruchsrechten gegenüber der Mehrheitsgesellschaft. Ein individualistischer Lebensstil hat nun nicht nur ein Anrecht auf Existenz, er muss bejaht werden. Wer ihm nicht huldigt, verweigert das, worauf der Selbstfindungsprozess zielte – den Beifall für einen idiosynkratischen Lebensstil.

Hang zu Weinerlichkeit

Beifallsverweigerung wird dementsprechend sanktioniert, da sie die gesamtgesellschaftliche Grundkonstruktion zu unterminieren droht: ihre Ideologie, ihr Wirtschaftssystem, ihre Institutionen. Nur wer lobt und für gut befindet, setzt nicht herab. Schon Desinteresse gilt als diskriminierend. Der dauergedrückte Like Button wird zum Menschenrecht. Zunehmend ersetzt eine auf individuellen Befindlichkeiten fußende Simulation die Wirklichkeit.

Doch Realität ist das, was bleibt, wenn alle sie leugnen. Wunsch und Wirklichkeit prallen irgendwann aufeinander. Die damit einhergehenden narzisstischen Kränkungen versucht man durch eine umfassende psychische Regression aufzufangen. Es kommt zu einer tiefgreifenden Infantilisierung des Verhaltens. Wut, Empörung und Selbstgerechtigkeit bestimmen die gesellschaftliche Auseinandersetzung ebenso wie der Hang zu Weinerlichkeit, narzisstischer Blickverengung und intellektuellem Kitsch.

Entsprechend infantilisiert auch die gesellschaftliche Realität: Treue, Gehorsam, Disziplin und Pflichtbewusstsein verlieren ihren sozialen Status, gesellschaftliche Rituale ihre Bedeutung, tradierte Verhaltensnormen lösen sich auf oder gelten als unzeitgemäß. Hierarchien werden flacher. Im Gegenzug genießen Spaß, Unkonventionalität und Kreativität eine hohe Reputation. Ganze Gesellschaften scheinen in der Pubertät festzustecken. Selbst der CEO eines Weltkonzerns kommt in T-Shirt und nachhaltigen Sneakern daher. Und wenn nicht alle gleich viele Smarties bekommen, ist die Aufregung groß. Die Fähigkeit des reifen Charakters ohne zu klagen und zu jammern auch mal Ungleichheiten oder Schieflagen zu ertragen, tendiert gegen null.

Der Puer aeternus und die Puella aeterna werden zum Ideal der Epoche, Gefühle radikal ausgelebt. Man heult, schreit, jubelt und zeigt sich wahlweise betroffen oder tief berührt. Emotionskontrolle, seit Jahrtausenden eingeübter Beleg persönlicher Reife, gerät in Vergessenheit. Die Moderne wird endgültig zu ihrer eigenen Karikatur.

Einst mit dem Versprechen in die Geschichte eingetreten, den Menschen Freiheit und Rationalität zu geben, scheitert sie schliesslich an sich selbst. Ihre technischen, wissenschaftlichen, ökonomischen und sozialen Versprechen haben sich zwar erfüllt, im gewissen Sinne sogar übererfüllt, doch der psychosoziale und gesellschaftspolitische Preis dafür war hoch.

Mit erstaunlicher Konsequenz entfalten spätmoderne Gesellschaften eine verhängnisvolle Dialektik, die die Verheissungen der Moderne im Moment ihrer Erfüllung in ihr Gegenteil verkehren. Statt Individualismus regiert Uniformität, Freiheit zeigt sich in Angepasstheit, Vielfalt mündet in der Homogenität einer alles beherrschenden Ideologie. An die Stelle der reifen Persönlichkeit tritt der gealterte Kindskopf. Autonomie zeigt sich als Haltlosigkeit. Emanzipation realisiert sich allenfalls als narzisstische Bindungsunfähigkeit. Technik wird nicht beherrscht, vielmehr beherrscht sie die Individuen. Wie Digitaljunkies sitzen die Menschen vor ihren blinkenden, sprechenden und fiependen Geräten, wischen, tippen und scrollen und meinen damit nicht nur auf der Höhe der Zeit zu sein, sondern sich mündig zu informieren und am gesellschaftlichen Diskurs teilzunehmen. Alexa – sprich mit mir.

Fortsetzung folgt.

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