Der Riß in unsrer Welt

Laßt uns mal über Sisyphos nachdenken. Er wurde bestraft, weil er den Tod fesselte und niemand mehr starb. Seine Strafe zeigt die Ironie der Götter, die dem Bestraften aufzeigen, wie es aussieht, wenn der Tod außer Gefecht ist.

Sisyphos revoltierte mit Eigensinn, indem er den Göttern entgegenhielt: Wieso Strafe? So wollte ich das doch! Dies nämlich ist die Glückseligkeit eines Wesens, das geborgen in einem immer Gleichen die Hoffnung gar nicht mehr braucht.

Was Sisyphos hier vom Tier unterscheidet ist nicht mehr die kantische Frage Was darf ich hoffen?, sondern die Frage nach der Fülle der Zeit, die Sisyphos nun im Überfluß hat, während der Stein den Berg allein hinabrollt.

Ein hochmodernes Problem in westlichen kapitalistischen Gesellschaften: Wie verbringe ich meine Freizeit in einer konsumtiven und durch zahlreiche Versicherungen gesicherten Welt? Hier springt einen die Frage nach dem Sinn an, die Camus* als absurde Frage erkannte.

Übermäßig versorgt mit Nachrichten aus aller Welt spüren wir, in unserer Konsumwelt ist Wesentliches oft nicht verfügbar. Zugleich enttarnt sich das Versprechen unseres Wirtschaftssystems.


Zeichnung: Rolf Hannes

Wenn wir uns heute politisch betätigen, dann entsteht eine bizarre Mischung aus Freizeitbewältigung und Sinnsuche. So sieht es dann aus: wenige Politprofis tagen in schicken Seminarräumen und Millionen Menschen harren draußen in der Kälte mit ihren hoffnungsfrohen Forderungen.

Die meist imaginären Versicherungen unseres Systems platzen zunehmend. Und damit stellen wir wieder die Frage nach dem Sinn des Ganzen. Um das Bild von Sisyphos noch einmal aufzunehmen: Der Stein rollt plötzlich an eine neue Stelle, die Sisyphos ganz unbekannt war. Jetzt spürt er einerseits Angst und andererseits wieder Hoffnung auf Erlösung von seiner Strafe. Ihm gerät wieder ins Bewusstsein, daß er bestraft wurde und der Tod frei ist.

Es kommt erneut zur Revolte (Umkehr: Er schlägt eine Volte)). Das was Sisyphos nun auf einmal wieder erlebt, das ist Spannung. Zuvor war er entspannt, nahezu glückselig in seiner inneren Ruhe und Entspanntheit. Daß das kein dauerhafter Zustand sein kann, wissen wir Menschen. Aber wer möchte im Zustand der Entspannung darüber nachdenken, ob dieser Zustand endet? Denn dieses Nachdenken selber beendet den Zustand.

Kritik am Kapitalismus ist daher nicht vorgesehen im Kapitalismus. Denn das wäre das Nachdenken, und damit würde der Sinn des Kapitalismus wie eine Blase platzen.


*Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos

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