Der Platz


Grafik: Friedel Kantaut

Hier, wo die Rolandstraße in die Tucholskysstraße mündet, die die Hausmannstraße kreuzt, liegt der Platz. In der Baulücke an der längsten Seite dieses Dreiecks hat vor zwei Jahren ein weißer Luxusliner mit Tiefgarage, Müllport und Gegensprechanlage festgemacht. Immer mehr dieser Architektenirrtümer ankern in der Stadt. Die graue Fassade des Gründerzeithauses neben der Baulücke wurde in rosa Zuckerguß getaucht.

Neben der Eisdiele im Untergeschoss kämpft Gum jeden Tag in seinem Spätkauf um Gewinn. Gegenüber, in der Tucholskystraße hat der Schuster seinen Laden an einen Showroom für Design verloren. Die Haxe an der Ecke ködert Touristen mit authentic german food. Auf der anderen Seite erstreckt sich vom Ufer der Hausmannstraße eine umzäunte Savanne bis zu den flachen Gebäuden der Hochschule für Tanz. Im Zentrum des Platzes hockt ein nackter Steinjunge und wärmt seinen Marmorkörper in der Sonne. Bis auf sieben Baumscheiben mit sieben jungen Linden ist der Platz als Mosaik bepflastert. Fünf blaue Holzbänke laden zum Blick auf die Straße und die orangenen Plastikmülleimer dazwischen zum Produzieren von Unrat ein.

Die ersten flachen Sonnenstrahlen tasten über die äußere Bank. Richard Fach setzt sein Bier ab und blinzelt in das warme Morgenlicht. Er ärgert sich. Gum, der immer schlecht gelaunte Vietnamese, hat es mal wieder geschafft, ihm den Vormittag zu verderben. Nur zwei Cent zu wenig, Gum schüttelt den Kopf, nuschelt bösartig: Kein Kredit. Fach kann sich nur diese billige Jauche leisten. Gut für diesen geizigen Fidschi, daß korrektes Bier einen nervenden Kilometer zu weit entfernt ist. Das Quietschen der Eisenräder einer Tram auf ungeschliffenen Gleisen weht von der Hauptstraße herüber, die Sirene eines Krankenwagens nähert und entfernt sich wieder. Auf dem Weg zum Unterricht kommen die ersten Ballettschülerinnen vorbei. Zuckersüße langbeinige Teenager in engen Leggins oder modisch und an den interessanten Stellen aufgerissenen, verwaschenen Jeans, Shirts, die mindestens eine Schulter freilassen. Kleine Ärsche, eine Ahnung von rosigen Brüsten und das Versprechen nahender Blüte nähren seine Päderastenfantasien. Fachs Laune bessert sich. Objektiv gesehen sind die Ballettjungs auch niedlich, passen aber nicht in sein Beuteschema. Die Schülerinnen überqueren den Platz in kleinen Gruppen, starren auf ihr Smartphone, schreiten durch seine Welt, ohne ihn wahrzunehmen, und kommen in ihren digitalen Tunneln nicht von ihrem Schulweg ab. Die modernen Rotkäppchen setzen den Wolf auf Diät.

 Wird fortgesetzt.

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein abgelegt und mit , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert