Der achte Turm

In kleinen Sprüngen, zur Melodie einer unhörbaren Musik, bewegte er sich auf die Stahlgerippe der verlassenen Bauten zu. Der Wind blies Staubwirbel über das nächtliche Meer. Unter seinem an die Felsen geklebten Wellblechverschlag schimmerte ein dunkelblauer Metalltupfer, der das Quadrat seines Fensters bis an den Horizont füllte.

Vor zwanzig Jahren, als er eines Tags gekommen und einfach nicht mehr gegangen war, war er nachts manchmal erwacht vor schmerzender Einsamkeit. Auch jetzt lag er wach. Das Meer war ein Flüstern, eine Stimme, eine Melodie. Wohin sollte er auch, fragte er sich. Ganz ruhig wurde er, wenn er in das Geviert der stählernen Türme stieg. Über den karstigen Hügeln begann die Luft zu flimmern. Alles veränderte sich, doch hier oben verschwand der Tag wie ein Schattenstreif auf der Oberfläche des Meers. Im ersten Jahr riss er für jeden Morgen ein Blatt aus dem Kalender, bis es keine Seiten mehr gab. Im zweiten Jahr verstummte das Ticken seiner Uhr. Selten verirrte sich jemand in die stählerne Stadt, seitdem die Felsen von den Maschinen kahlgefressen und die Straßen versandet waren. Wenn es doch geschah, bat er die Fremden um Papier. Und er schrieb an gegen leere Seiten.

Die beschriebenen Seiten warf er in die abgeschnittenen Hälse stählerner Röhren, die aus dem Fels starrten. Der seltene, heftige Regen schwemmte den brackigen Papierbrei auf. Die Chronologie der Dinge blieb nur bewahrt in der Einbildung der Fremden, die so schnell wieder verschwanden wie sie gekommen waren. Ihre Silhouetten verschwanden, vom Staub eingesogen, aus seinem Leben. Nie kehrte einer zurück, außer in seinen Träumen.

Daniel Mylow - Der achte Turm

Grafik: Friedel Kantaut

Der Schlaf war sein Traum. Er sah sich reglos. Die Melodie verstummte, während jemand unter dem vor dem Fenster aufgeschichteten Holzstoß ein Feuer entfachte. Er sah zu, wie die Flammen die Wellblechhütte fraßen und ihn im Schlaf verschlangen. Aber er war der Fremde, der sah, wie die Wellen gegen den Felsen tosten, das Licht mit Flammenstrichen gegen stählerne Fassaden spuckte. Er riss sich los. Im Schein des Feuers zählte er die gegen den Nachthimmel streichholzdünnen Stahltürme. Acht. Sie verschwanden in einer geraden Linie zum Horizont, gegen die schwarze Wand des Felsens hin. Er erstieg den achten Turm. Im Traum war er oft dort oben gewesen. Als er das erste Mal über den verrosteten Stahlstreben hängend dort erwacht war, sah er erschrocken hinab auf das Dach der Wellblechhütte und wusste, dort lag er und schlief.

Als er an diesem Morgen die Augen aufschlug, war alles anders. Er sah auf die schwelenden Trümmer der Hütte. Die Stahlstreben des Turms zitterten im Wind, während er den Fremden in den Überresten herumstochern sah. Der Rost fraß sich mit der Sonne in seine Haut. Das Streichholzbein des Turms pochte. Es klang wie das Ticken einer Uhr.

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Eine Antwort zu Der achte Turm

  1. Ursula Gressmann sagt:

    Ich hätte sehr gerne mehr gelesen. Uschi

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