Garm bewacht den Eingang zur Unterwelt. Zeichnung von Johannes Gehrts (1889)
Als ganz junger Mensch, als ich anfing zu schreiben, begleitete mich einige Zeit die beinahe wahnhafte Gewissheit, dass der mir verwehrte Tagesruhm mit umso größerem Nachruhm einhergehe. Ob es in 50 Jahren noch Schriftsteller geben wird mit Nachruhm, wissen wir nicht. Bei etwa 80.000 Neuerscheinungen pro Jahr allein in Deutschland ist eher nicht davon auszugehen. Aber hat das eine mit dem anderen wirklich zu tun? Als der französische Bischof Pierre Daniel Huet seinen Traktat über den Ursprung der Romane schrieb – und damit den ersten literarischen Kanon schuf – , hatte er vermutlich deutlich weniger Belles lettres zu bewältigen, als eine Buchsaison heute ausspuckt.
Und schon Pierre Daniel Huet hat ganz sicher nicht alle Romane gelesen. Und ganz sicher haben die, die heute einen Kanon bereitstellen nicht, nie auch nur annähernd alle Romane gelesen. Und dann haben auch nicht alle alle Romane zu jeder Zeit gelesen. Denn jeder einzelne Leser hat nicht nur sein eigenes Urteil, sondern auch seine eigene Zeit des Urteils. Daher galt es eine Ästhetik anzulegen, die nicht nur die reine Wahrnehmung im Blick hat, sondern die Kriterien von schön und hässlich absteckt. Doch mit dem 20. Jahrhundert wurde es zunehmend zur Selbstverständlichkeit, dass für Bewertung von Kunst nicht mehr als selbstverständlich gilt. Noch nicht einmal ihr Existenzrecht ist gesichert.
Der Roman erlebt einen außergewöhnlichen Boom in unserer Epoche. Einfach nur deshalb, weil er eine in sich geschlossene Geschichte mit hinreichender lebensnaher Komplexität vermittelt. Und dies verschafft uns sinnverlorenen Menschen im Nirgendwo des Konsums ein wenig Halt. Einen trügerischen Halt, denn die Buchproduktion mag hoch sein, aber der Inhalt ist es nicht. Es gibt nur eine endliche Zahl an Verknüpfungen. Um eine Geschichte weiter in sich geschlossen zu halten, kann ich auf bestimmte dramaturgische Gesetze nicht verzichten. Und diese Gesetze (Anfang, Mitte und Ende wäre eines der simpelsten davon) werden in einer Massenkultur zu einem Straßennetz des Massenverkehrs.
Es ist nicht mehr möglich, einen Roman zu schreiben der herausragt. Es wäre, würde der Text herausragen, kein Roman. Das macht den Tagesruhm durch *Anagnorisis beständiger, als den Nachruhm. Das unterschiedlich Herausragende ist uns nicht geheuer. Was im dauernden Heute aus der Vergangenheit leuchtet, ist wohliges Licht, das sich ins Tageslicht schmiegt. Daher wird auch die Erinnerungskultur immer fragiler. Das Schattenreich ist uns suspekt geworden. Sich dem angenehmen Licht der Mode zu erwehren, bedeutet, nicht zeitgemäß zu sein. Doch jeder Trampelpfad ist schon vernetzt und gut beleuchtet. Der vorherrschende Nominalismus on its own merits karikiert dabei die Existenz ästhetischer Gesetze. Typisch wäre dann untypisch.
Das Neusprech der Massenkultur examiniert den Ausreißer. Jeder Nachruhm heutiger Tage ist nur Tagesruhm. So kann die Mode derart wechseln, dass ganz plötzlich Altes wie neu erscheint und im kurzen Aufblitzen gleich wieder in der Vergessenheit versinkt. Das Alte wird ohne seinen Schatten reflektiert. Es gibt nichts Bleibendes, nur ewig Gleiches, das sich hier und da ins Muster des Massenverkehrs einschmiegt. In der Massenkultur wird nicht erinnert, nur reklamiert, was nicht ins Tagesgeschäft gehört, nur aussortiert. Jenseits des Massenverkehrs ist nur noch der Abgrund des Schattenreichs, eine Art Parkanlage. Gelegentlich kommt ein Nachtwächter mit der Taschenlampe. Wer auf diese im Schatten liegende Parkanlage zuschreibt, kann nur auf günstiges Licht hoffen. Ein kurzer Streif, ein Moment Aah und Ooh. Ein kurzer Kitzel für die Anständigen, die sich dann schnell wieder dem Tagesgeschäft zuwenden.
*Anagnorisis (Wiedererkennung) bezeichnet in der griechischen und römischen Literatur den Umstand, dass sich zwei Personen wiedererkennen. (Wikipedia)