Die Zeitung erwähnte einen Politologen, der einen Nachrichtenkanal in türkischer Sprache betreibt und seinen 215.000 Abonnenten täglich die neuesten Corona-Maßnahmen mitsamt Hintergründen erklärt. Wieso beschreiben hiesige Mainstream-Medien nicht auch einmal, wie umfangreich das Informationsangebot hierzulande in sozialen Medien für Menschen mit Migrationshintergrund in deren Muttersprachen wirklich ist? Auch das ist ein großes Versäumnis.
Ein fast durchweg bestrittener Zusammenhang
Auf die wahren Gründe für den engen – und bis heute ganz überwiegend in den etablierten Medien bestrittenen – Zusammenhang, den die Studie aus Österreich herausgearbeitet hat, geht kaum ein Blatt im deutschen Blätterwald jemals ein. Der mit Sicherheit stärkste Beweis für den engen Zusammenhang zwischen Migration und Corona ist die hohe Belegung der Intensivbetten in den Krankenhäusern. Sie wird als unausgesprochenes Tabu nur vereinzelt thematisiert – um gleich danach mit großem Aufwand medial unter den Teppich gekehrt zu werden. Das Thema wäre in den Schlagzeilen des Mainstreams beinahe ganz untergegangen, hätte nicht Anfang März RKI-Chef Lothar Wieler den hohen Anteil der Intensivpatienten mit Migrationshintergrund zur Sprache gebracht.
Für Berlin riesige Auswirkungen
“Das Ganze hat für Berlin riesige Auswirkungen. Das ist ein echtes Problem“, zitierte ihn die Bild und im Gefolge zahlreiche andere deutsche Blätter. In der Bundesregierung werde das Thema als Tabu empfunden, man habe Angst vor einer Rassismus-Debatte. Für eine Regierung, die den Kampf gegen Corona zur Chefsache für das Kanzleramt gemacht und so gut wie alles andere im Land diesem Vorhaben untergeordnet hat, ist das eine seltsame Priorisierung. Wieler habe in der BILD Covid-Infektionen als “Integrationsproblem“ dargestellt, wetterte die “taz“ in einem Beitrag mit der Schlagzeile “Ungleichheit macht krank“. Das Blatt schimpfte, “Das ist rassistisch“. Behauptungen aus dem Artikel der BILD seien bereits durch Faktenchecks entkräftet. Das RKI beeilte sich derweil, durch seine Sprecherin Marieke Degen festzuhalten, dass die umstrittenen “Inhalte“ nicht korrekt wiedergegeben worden seien und es sich auch nicht um abschließende Feststellungen, sondern nur Überlegungen Wielers handle. Auch die “Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin“ (DIVI) widersprach prompt: Es stimme nicht, dass 90 Prozent der Covid-Intensivpatienten einen Migrationshintergrund hätten, es gebe solche Daten nicht.
Schätzungen bis zu 90 Prozent
Der Hinweis der taz auf die Faktenchecker bezog sich auf einen Artikel bei Correctiv, wo am 4. März kritisiert wurde, Bild habe “angebliche“ Aussagen von Lothar Wieler laut dem RKI “aus dem Zusammenhang gerissen. Das gelte auch für die Aussage eines Chefarztes der Bethanien-Klinik, wonach 90 Prozent der intubierten, schwerst-kranken Covid-Patienten einen Migrationshintergrund hätten. Für derlei Aussagen gebe es keine statistische Grundlage.
Genau das ist der Skandal: Dass trotz der Relevanz und Brisanz dieses Zusammenhangs bislang keine Zahlen erhoben, zumindest nicht publiziert werden. Schon im Februar hatte mir ein Heidelberger Arzt nach einem Interview, als das Mikrofon und die Kamera bereits abgeschaltet waren, genau das gesagt: “Ein Großteil der Intensivpatienten in deutschen Krankenhäusern sind Menschen mit Migrationshintergrund.” Am 9. April war wieder so ein Tag, an dem der Zusammenhang zwischen Migration und Corona durch einen Nachrichtensplitter deutlich wurde. Focus berichtete von einem Dokument, das dem Magazin ein Informant aus einem Kölner Großkrankenhaus zugespielt hatte. Die Kernaussage darin: “Die Infektionswelle trifft besonders Menschen mit Migrationshintergrund.“ Der Auswertung zufolge wiesen “mehr als 55 Prozent der Corona-Patienten ausländische Wurzeln auf.“ Die Zahlen waren von November 2020 bis Februar 2021 erhoben worden. Zwei Drittel der in diesem Zeitraum in dem Klinikum behandelten Corona-Intensivpatienten “hatten einen Migrationshintergrund.“ Doch die ersten belastbaren Zahlen aus einem deutschen Großklinikum wurden ebenfalls vom medialen Mainstream schnell der Vergessenheit anheim gegeben.
An die Gründe wagt sich niemand heran.
An die Gründe für den enorm hohen Anteil migrantischer Patienten wagt sich erst recht niemand heran. Es sind durchschnittlich größere Familien, die oft auf engem Raum zusammenleben. Ist das eine rassistische Feststellung? Nein, sie ist statistisch belegbar. Es sind aber auch Menschen, die viel zwischen ihren Ursprungsländern und der neuen Heimat hinundherpendeln, sie übertragen das Virus.
Und schließlich der brisante Befund der Studie des österreichischen Integrationsfonds, derzufolge Menschen mit Migrationshintergrund weit überdurchschnittlich den Corona-Informationen der Regierung nicht trauen und viel öfter die Maßnahmen für übertrieben halten. Wer alleine schon den Befund tabuisiert – und die Gründe für den unterdrückten Befund nicht zu thematisieren wagt -, kann Corona nicht effektiv bekämpfen. Alle Bekundungen des Gegenteils überzeugen nicht. Dabei ist das beileibe nicht das einzige schwere Versäumnis im Kampf gegen das Virus.