Bestrafungs-Eifer

Corona-Bußgelder: Bestrafungs-Eifer statt Nachsicht, deutsche Behörden wieder einmal auf Abwegen.

Von Boris Reitschuster

Unsere Justiz ist personell und organisatorisch so überlastet, fast schon regelmäßig kommen Schwerverbrecher bis hin zu Kinderschändern auf freien Fuß, etwa, weil Fristen nicht eingehalten werden. Auch die Verwaltungen in den Städten und Kommunen klagen regelmäßig, sie wären weit über dem Limit.

Keinerlei Personalmangel scheint indes in der Regel zu herrschen, wenn es um die Verfolgung von sogenannten Corona-Delikten geht. Die werden weiter mit Hochdruck verfolgt – weil Verjährung droht. So, als ob die Sicherheit unseres Staates davon abhänge, dass jeder seine Strafe bekommt, der auch nur zum falschen Zeitpunkt spazieren gegangen ist.

„Die Pandemie ist vorbei? Das sehen zahlreiche Städte und Gemeinden ganz anders“, schreibt jetzt die „Welt“ hinter einer Bezahlschranke: „Sie arbeiten eifrig gegen die Zeit, um noch möglichst viele ‘Übeltäter‘ zu verdonnern, bevor Corona-Vergehen verjähren. Gnade vor Recht wollen sie nicht gelten lassen – das sei nicht gerecht.“

So saßen am 15. Februar 2022 in Pirna in einem Bootshaus etwa drei Dutzend Menschen zusammen und fieberten mit dem Bobfahrer Francesco „Franz“ Friedrich im fernen Peking mit, wo er um die olympischen Medaillen fuhr.

„Als der Sohn der sächsischen Stadt dann tatsächlich im Zweierbob zu Olympia-Gold fuhr, sprangen viele jubelnd auf, Pirnas Oberbürgermeister Klaus-Peter Hanke (parteilos) und ein Vertreter des Kreissportbunds umarmten sich sogar – dummerweise vor der Kamera eines lokalen Senders“, wie die „Welt“ berichtet.

Der damalige AfD-Landtagsabgeordnete Ivo Teichmann beschwerte sich daraufhin beim Landrat,  dies sei ein Verstoß gegen die Corona-Vorschriften: „Hilfsbereit lieferte er eine Namensliste mit, und das Landratsamt verhängte Bußgelder, unter anderem für David Friedrich, den Bruder des Gold-Fahrers, und den ehemaligen CDU-Bundestagsabgeordneten Klaus Brähmig. Sie sollten je 250 Euro zahlen, der Veranstalter sogar 3.000 Euro. Die meisten Verdonnerten legten Einspruch ein“, so die „Welt“.

Nun musste sich das Amtsgericht Pirna mit dieser weltbewegenden Sache befassen. Die Linie des Gerichts: Straf-Nachlass im Austausch gegen ein Geständnis. Friedrich und Brähmig mussten „nur“ noch 100 Euro zahlen statt den 250 geforderten, der Wirt 800 Euro statt 3.000 Euro.

Das Gericht begründete diese vermeintliche „Milde“ damit, viel Zeit sei vergangen, die Corona-Regeln seien nicht mehr in Kraft, und die Höhe der Strafe habe seinerzeit ja vor allem abschreckende Wirkung entfalten sollen, wie es in dem Bericht heißt: „Das sei mittlerweile nicht mehr nötig, ergo reichten niedrigere Strafen völlig aus.“

Dass die „Welt“ in diesem Urteil „Milde“ entdeckt, halte ich für fragwürdig. Immerhin ist inzwischen klar, die Ausgangsbeschränkungen sind nicht nur weitgehend unsinnig, sondern auch in Teilen grundgesetzwidrig. Eine Strafe für Verstöße gegen potentiell verfassungswidrige und offensichtlich unsinnige Regelungen kann man in meinen Augen nicht als „mild“ bezeichnen. Auch wenn sie geringer ausfällt als von Ordnungsamt oder Staatsanwaltschaft gefordert.

„Corona scheint in weite Vergangenheit gerückt, nicht jedoch für Gerichte und viele Verwaltungen“, so das Fazit der „Welt“. Dabei zeige der Fall aus Pirna, „es gäbe beim Umgang mit Corona-Bußgeldern genügend Spielraum, man also durchaus Gnade vor Recht ergehen lassen könnte. Doch das verweigert so manche Kommune hartnäckig.“

Nach den Recherchen des Blatts werden immer noch „teils drastische Bußgeldforderungen für Vergehen versandt, die die Beschuldigten längst vergessen haben“. Manche Ordnungsämter arbeiten demnach „derzeit sogar unter Hochdruck am Corona-Rückstau: Sie wollen verhindern, dass Beschuldigte ohne Bußgeld davonkommen, weil die Verjährung einsetzt.“

Dabei gibt es in Sachen vermeintlicher Corona-Vergehen eine verhältnismäßig lange Verjährungsfrist von bis zu drei Jahren. Bei Fällen aus Jahr 2020 rückt diese aber näher. „Dem wollen die Behörden zuvorkommen. In Köln, wo zwischen Pandemiebeginn und Februar 2023 schon mehr als 13.000 Bußgeld-Briefe oder Anhörungsbögen verschickt wurden, warten noch Tausende von Anzeigen auf Bearbeitung“, so das Blatt: „Die Sprecherin schätzt die Zahl auf einen mittleren vierstelligen Bereich.“

Auf die Verfolgung zu verzichten, komme nach Angaben der Sprecherin nicht infrage: Wegen des „Gleichbehandlungsgrundsatzes“ werde an der Ahndung aller Verstöße festgehalten. Sonst sei das unfair Menschen gegenüber, deren Verfahren zügig angegangen wurden. Die Stadt Mannheim sieht es genauso: „Eine Amnestie würde den Verlust des Vertrauensschutzes für die Privathaushalte und Gewerbebetriebe, die sich zum Schutz der Bevölkerung an die Regeln gehalten haben, bedeuten“, heißt es dort.

Dass man den „Gleichbehandlungsgrundsatz“ auch anders anwenden könnte, scheint den Behörden nicht klar zu sein: So muss etwa der Freistaat Bayern nach richterlichen Entscheidungen in vielen Fällen Corona-Bußgelder wieder an seine Bürger zurückzahlen.(siehe hier).

Viele Menschen sind sehr überrascht, wenn sie in diesen Tagen noch Briefe wegen Vergehen bekommen, die schon lange zurückliegen. Die „Welt“ bringt als Beispiel die Journalistin Clara-Marie Becker, die im April 2023 aus Köln eine Zahlungsaufforderung über 78 Euro nachhause nach Berlin geschickt bekam – sage und schreibe 724 Tage nach der beanstandeten Ordnungswidrigkeit.

Sie habe im März 2021 allein am Kölner Rhein-Ufer gesessen, um einen mitgebrachten Salat zu essen, berichtete Becker der „Bild“: Damals sei das Ordnungsamt angerückt und habe gerügt, sie habe keine Maske auf. Sie entgegnete zwar, sie esse doch gerade, aber das konnte die „Ordnungshüter“ nicht erweichen: Man habe sie „fünf Minuten lang beobachtet“, hielten ihr die Mitarbeiter des Ordnungsamts vor, die offenbar keine andere Beschäftigung hatten: „In dieser Zeit haben Sie die Gabel nicht zum Mund geführt!“ Was für ein schwerwiegender Vorwurf!

Die Strafe für die Journalistin ist umso absurder, als inzwischen sogar Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) zugeben musste, die Pflicht zum Maskentragen unter freiem Himmel war unsinnig, wenn jemand sich allein dort befand.

Auch Susanne G. aus München-Sendling war laut „Welt“ sehr überrascht, als im Mai ein Bußgeldbescheid über 103,50 Euro in ihrem Briefkasten lag. Wegen eines Vergehens ihrer Tochter: Die war, damals 15 Jahre alt, an Halloween 2020 im Park unterwegs. Mittlerweile ist die Tochter schon volljährig und konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, dass sie vor fast drei Jahren im Park kontrolliert wurde. Dort hatte sie sich mit zwei Freundinnen verabredet. Das könnte nun teuer werden: Das Kreisverwaltungsreferat verlangt 75 Euro Bußgeld, 25 Euro für Auslagen und 3,50 Euro an Gebühren, weil sich Sophia „mit sieben anderen Personen“ getroffen habe. Dabei sagt sie, sie und ihre zwei Freundinnen seien nur zufällig im Park auf andere Jugendliche gestoßen.

Ein Behördensprecher sagte der Welt, die offenen Fälle würden „unabhängig von der Aufhebung aller Maßnahmen weiterverfolgt“: Dass dies „manchmal lange dauere, liege an der hohen Fallzahl und Überlastung: Im Zuständigkeitsbereich der Behörde seien 66.000 Ordnungswidrigkeiten aufgenommen worden, mehr als dreimal so viele wie in normalen Zeiten.“

Besonders bizarr ist die lange Verjährungsfrist, wenn man sie mit Bußgeldverfahren im Straßenverkehr vergleicht. Falschparken oder Geschwindigkeitsüberschreitungen werden entweder innerhalb von drei Monaten geahndet oder gar nicht. Aber was im Verkehrsrecht, wo es etwa bei Raserei um reale Gefahren geht, selbstverständlich ist, gilt nicht bei Corona-Bußgeldern. Da greift der Staat unter Umständen auch noch nach Jahren zu. Die Verjährungsvorschriften sind kompliziert und orientieren sich am möglichen Höchstbußgeld.

Weil das Infektionsschutzgesetz Bußgelder von bis zu 25.000 Euro möglich macht, orientieren sich viele Behörden und Gerichte an der für solche Beträge gültigen Verjährungsfrist von drei Jahren. Die Krux: Wer damit nicht einverstanden ist und vor Gericht zieht, dem drohen noch weitaus höhere Ausgaben, weil dann etwa Gerichtskosten dazu kommen können, wenn man unterliegt.

Besonders dreist ist das Vorgehen der bayerischen Behörden. Die hatten nach ihren Schlappen vor Gericht eine Teil-Amnestie für sogenannte Corona-Vergehen angekündigt. Viele Menschen hofften deshalb auf eine Rückzahlung von Strafen, die sie bereits berappen mussten. Dabei ist nicht nur die Teil-Amnestie offenbar eine Luftnummer. Auch die Gerichtsentscheidung entpuppt sich als Papiertiger: Tatsächlich haben nur sage und schreibe 25 Personen bisher eine Rückerstattung erhalten. Und das, „obwohl im fraglichen Zeitraum vom 1. bis 19. April 2020 bayernweit rund 22.000 Bußgelder verhängt worden waren“, wie die „Welt“ schreibt: „Bis Mitte Juni 2023 seien von 513 Anträgen auf Rückzahlung 463 abschließend bearbeitet worden. Den 25 positiven Entscheidungen stünden 438 Ablehnungen gegenüber, 50 Anträge würden noch bearbeitet, so die Sprecherin. Der Grund für die hohe Ablehnungsquote: Entweder stammte das Bußgeld nicht aus dem gerichtlich gerügten Zeitraum, oder es war für andere Ordnungswidrigkeiten verhängt worden.“

Der Vergleich mit dem Ausland zeigt, wie bizarr die deutschen Behörden agieren. In Slowenien etwa werden Strafen wegen Verletzungen von Corona-Bestimmungen, die später für verfassungswidrig erklärt wurden, erlassen oder zurückgezahlt. „Und auch das österreichische Bundesland Niederösterreich will Teile der Corona-Strafen erstatten, wie die neue Koalition von konservativer ÖVP und rechtspopulistischer FPÖ im Mai mitteilte“, wie die „Welt“ ausführt: „Der Wind der Gerechtigkeit weht durchs Land“, sagte demnach der neue Vize-Ministerpräsident Udo Landbauer von der FPÖ in St. Pölten: Statt „Angst und Diskriminierung“ gebe es jetzt „Hoffnung, Wiedergutmachung und Gerechtigkeit“.

Davon scheint Deutschland noch meilenweit entfernt. Und schlimmer noch: Der Zug geht eher in die andere Richtung.

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