Am Anfang

Zeichnung: Rolf Hannes

Die Frau blickte auf die nackten weißen Wände, auf die nahezu leer gewordenen Regale. Jahrelang hatte sie – Bild für Bild, Erinnerung für Erinnerung – vor allem dasjenige zugepflastert, das ihrem Schlaf vorbehalten war. Der Raum atmete auf, als der Mann aufgetaucht war. Mit einer schwungvollen Geste fegte er die Erinnerungsobjekte der Frau aus den Regalen und mit einem lauten Lachen schüttelte er ihre Bilder aus den Rahmen. Das Holzbett wunderte sich in der Folgezeit sehr über die Dinge, die in ihm vorgingen; kurz waren sie geworden, die ruhigen Stunden, durchgerüttelt wurden Lattenrost und Matratze von den neuartigen Aktionen. Klagelaute in verschiedenen Frequenzen erfüllten den dunklen oder abgedunkelten Raum. Der indische Schal, der jahrelang den Schrankspiegel verhängt hatte, quittierte seinen Dienst. An den Nachmittagen krochen fremde Sprachen aus einigen Büchern, die von dem Mann und der Frau speziell aus dem Wohnzimmer geholt worden waren. Sie schätzten es nämlich außerordentlich, in laut vorgetragene   Poesie einzutauchen. Auf dem Boden lagen noch eine geraume Zeit diejenigen Gegenstände, die für den Flohmarkt, die Altkleidersammlung oder die Mülltonne bestimmt waren. Teil für Teil trug die Frau den Berg an Abgelegtem ab; einige Gegenstände verwahrte sie für spätere Zeiten tief unter dem Bett in einem Koffer. Lange betrachtete sie den ausgeräumten Raum. Sie wusste, dass das erst der Anfang war.

Immer wieder durchschritt der Mann die zwei noch fast leeren Räume. Er betrachtete den Lichteinfall durch die Jalousien, veränderte die Stellung und meditierte über die gestreiften Schatten auf der gegenüberliegenden Wand. Ein Messingbett war bereits geliefert worden, noch war es uneingeweiht, dafür wartete er auf den ersten Besuch der Frau. Bis zu jenem in der Zukunft schimmernden Punkt füllte er sein Domizil mit Visionen und Ideen von Vergangenem und Kommendem. Jahrelang war er gezogen von einem möblierten Zimmer ins nächste, ins übernächste. Eine neue Wohnsituation berauschte ihn, eine neue Wohnsituation mit noch zwischenmenschlichen und technischen Fallstricken forderte ihn heraus. Er fürchtete niemals das Neue, nie die ersten Wochen in einem fremden Stadtviertel, nie die Suche nach den günstigsten Verkehrsverbindungen, Supermärten und Secondhand Shops. Jetzt nannte er zwei Räume sein eigen, zwei Räume die Stück für Stück mit Erinnerungen und Objekten angefüllt werden würden. Er blickte immer auf das Messingbett. Er wusste, dass das erst der Anfang war.

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