Alptraumszenario

Von Daniel Weinmann

Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten ist einer der zentralen Aspekte der Medizinethik. Jeder Mensch hat das Recht, über sämtliche Therapien und Behandlungen selber zu entscheiden – selbst wenn dieser Entschluss unvernünftig erscheint. Dieser Grundsatz folgt aus der Garantie der Menschenwürde und gilt absolut.

Die heiß diskutierte allgemeine Corona-Impfpflicht verstößt indes gegen dieses Prinzip und ist daher weder moralisch noch verfassungsrechtlich zu rechtfertigen. Zu diesem Fazit kommt der Londoner Rechtsprofessor Kai Möller in einem Essay für die „Welt“.

Die Impfpflicht könnte seiner Ansicht nach zwei Ziele verfolgen: Zum einen die Zirkulation des Virus im kommenden Herbst und Winter zu dezimieren. Zum anderen könnte sie dazu beitragen, die Wahrscheinlichkeit schwerer Erkrankungen zu verringern.

Befürwortern der Impfpflicht zufolge könnte die Vakzination zumindest geringfügig und für einen gewissen Zeitraum helfen, Ansteckungen zu vermeiden. Möller hält dieses Argument jedoch nicht für überzeugend und kann sich zudem nicht vorstellen, dass dies wirklich der Gedanke ist, der die Fürsprecher der Impfpflicht antreibt. Denn es sei bekannt, dass die Wirkung der Impfstoffe nach relativ kurzer Zeit nachlässt.

Impfpflicht kann nicht durch spekulative und eher marginale Vorteile gerechtfertigt werden

„Wenn es also wirklich darum ginge, die Zirkulation des Virus im nächsten Winter zu verringern“, so der Rechtswissenschaftler, „müsste es zumindest in Erwägung gezogen werden, all die, die sich schon diesen Winter zum dritten oder vierten Mal haben impfen lassen, zu einer vierten oder fünften Impfung zu verpflichten.“

Dies werde aber von den Impfpflicht-Verfechtern weder vorgeschlagen noch diskutiert. Selbst Bundesgesundheitsminister Lauterbach habe „explizit klargestellt, dass die Impfpflicht lediglich drei Impfungen vorschreiben soll.“ Daher erscheint es für Möller eindeutig, dass eine Verringerung der Zirkulation des Virus nicht der Hauptzweck der Impfpflicht sein kann.

Die Crux: Selbst, wenn eine Impfpflicht zu einer gewissen Verringerung der Zirkulation des Virus im Herbst und Winter beitragen würde, fiele der Vorteil daraus angesichts der aktuellen Datenlage eher gering und spekulativ aus. Für Möller ist daher klar: „Da die Impfpflicht unbestrittenermaßen einen schweren Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Selbstbestimmung darstellt, kann dieser schwere Eingriff aber nicht durch spekulative und der Datenlage entsprechend eher marginale Vorteile gerechtfertigt werden.“

Auch die Brust- und Prostatakrebsvorsorge könnte vom Bundestag erzwungen werden

Auch der zweite potenzielle Grund für eine Impfpflicht, nämlich die Menschen vor schwerer Krankheit und Tod zu bewahren und eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern, verstößt laut Möller gegen das Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Denn dieses Ziel sei „nur auf dem Weg der Verletzung der absolut geschützten Patientenautonomie zu erreichen“. Es gehe hier darum, die Menschen per Gesetz zum Schutz ihrer eigenen Gesundheit zu zwingen – und dies sei unzulässig.

Der Professor of Law an der London School of Economics zieht einen erhellenden Vergleich, um seine Argumentation zu untermauern: „Wenn die Logik der Befürworter der Impfpflicht zuträfe, dann dürften wir in Zukunft Menschen mit Bluthochdruck auch unter Androhung von empfindlichen Bußgeldern zur Einnahme ihrer Blutdruckmedikamente zwingen: Ansonsten drohen die Krankenhäuser mit Schlaganfall-Patienten vollzulaufen.“

Auch die Brust- und Prostatakrebsvorsorge könne vom Bundestag erzwungen werden, weil andernfalls die sonst später erkannten und damit komplizierter zu behandelnden Krebserkrankungen das Gesundheitssystem be- und vielleicht sogar überlasten könnten.

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