Den Abschiedsbrief schrieb Sylvie Weber, übernommen aus dem Portal von Boris Reitschuster:
Es gab vor Jahrzehnten eine Partei, die angetreten war, das bestehende politische System zu ändern, es menschlicher zu machen. Sie wollte gesunde Lebensverhältnisse für alle schaffen. Gentechnische Veränderungen beim Mais wurden verteufelt. Und sie haben für jede noch so kleine Minderheit Gleichberechtigung erkämpft. Die Grünen setzten sich ein für ein lebendiges, integratives Schulsystem. Bürgerrechte wurden hochgehalten. Entscheidungen über den eigenen Körper sollten selbstverständlich individuell getroffen werden.
Dann kam Corona! Und mit einer schier unglaublichen Geschwindigkeit wurden bestehende ethische Werte und Normen hinweggefegt. Die für mich aber immer noch bedeutsam sind. Mein Wertegerüst hat sich in den Grundsätzen auch in den letzten anderthalb Jahren nicht geändert. Vor 15 Monaten hab ich Euch deshalb nach 18 Jahren Parteizugehörigkeit verlassen. Ich hab mir diese Entscheidung nicht leicht gemacht.
Ja, ich war Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen. Ja, ich war sogar aktiv. In Partei und in Fraktion. Ich war im parlamentarischen Alltag auf Kommunalebene eingebunden. Und ich habe Wahlplakate gekleistert. Ich habe viel Lebenszeit in die politische Arbeit gesteckt. Ja, Ihr wart für mich die politische Heimat. Ich habe zu Euren Zielen gestanden und Euch gegen Kritik verteidigt. Ich habe Freundschaften mit Euch gepflegt. Wir haben zusammen geredet – und zwar viel! Wir haben miteinander gestritten. Wir haben zusammen getanzt. Wir haben getrunken und viel gelacht. Wir hatten gemeinsame Ideen und Vorstellungen von einer lebenswerten Welt.
Laut Eurem Selbstverständnis seid Ihr noch immer weltoffen, divers, bunt, progressiv, wissenschaftsaffin, menschlich und sozial. Im Abgleich mit der Realität in Corona-Zeiten komme ich zu einem anderen Ergebnis. Ihr seid autoritär, denunziatorisch, ausgrenzend, unsozial, verbreitet Hass und Hetze und nehmt wissenschaftliche Erkenntnisse nur noch sehr gefiltert wahr. Ihr braucht Belege?
Der grüne Politiker Cem Özdemir beschwerte sich nach einer Querdenken-Demonstration im März 2021 in Kassel über die fehlende Anwendung von Zwangsmitteln durch die Polizei. Auf Eurer Homepage startet ihr unter der „Grünen Netzfeuerwehr“ Aufrufe zur Denunziation, die ihr als Kampf gegen Hass und Hetze verkauft. Ihr bezeichnet einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung als „Coronaleugner“, die „sich radikalisieren“. Wer jemals auf einer Demonstration von Maßnahmenkritikern (die alle unter dem Begriff „Querdenker“ subsumiert werden) war, weiß wie realitätsfern diese Einschätzung ist. Diese Demos sind von einer penetranten Friedlichkeit und von Nazis so weit entfernt wie der Pluto vom Merkur. Es ist eine Mischung aus Loveparade, Woodstock, einem Reggae-Festival und dem Evangelischen Kirchentag. Es gibt singende, tanzende Bürger aller Altersklassen und Couleur, die für „Frieden, Freiheit, Demokratie“ auf die Straße gehen. Welches dieser drei Ziele stört Euch eigentlich genau?
Euch geht die Bekämpfung der angeblichen „Coronaleugner“ nicht weit genug. Reicht es nicht, Kritiker zu diffamieren, sie zu zensieren, sie in die Psychiatrie zu stecken, ihnen die Konten zu kündigen? Was schlagt Ihr noch vor? Ausbürgerung oder Gefängnis? Früher hätten wir diese unglaublichen Vorgänge zusammen kritisiert und uns für den Schutz der Bürgerrechte aller eingesetzt.
Fortsetzung folg morgen.