© R. H.
In meiner Nachbarschaft wohnte vor Jahren eine alte Dame, allein, sich ein wenig vernachlässigend. Ich weiß nicht, ob sie einmal verheiratet war. Möglich, wenn sie einer danach gefragt hätte, hätte sie geantwortet: Ich kann mich nicht mehr darauf besinnen. Es schien, sie hatte vieles aus ihrem Leben vergessen, bis auf einige scheinbar belanglose Dinge und Begebenheiten. Sie bewohnte ein Zimmer in einem der großbürgerlichen Häuser, die von den Bomben des Kriegs und der Umbauwut des Nachkriegs verschont geblieben waren: ein großer, hoher Raum, mit stukkverzierten Decken, über der zweiflügeligen Tür eine Supraporte. Die hohen, schmalen Fenster, die bis zum Boden reichten, hatten etwas architektonisch Verschwenderisches. Sie suchte jemanden, der ihr ab und zu etwas vorlas, da ihre Augen immer schwächer wurden. Weil ich sowieso viel Zeit vertrödelte und gern vorlese, bot ich mich an.
Losgelöst vom Zweck werden manche Dinge, die sonst nur alltäglich sind, außergewöhnlich, schön oder häßlich. Auf ihre Weise befreit, geraten sie in den Zustand eines anderen Daseins. Wortwörtlich, so empfinde ich: sie sind anders da. Es gibt auch Dinge, die sich so loslösen von ihrer kleinlichen Umwelt, sie werden fast unverständlich, wenn man nicht genau hinhört oder genau hinschaut. Mich wunderte es keineswegs, daß die Bewohnerin eines solchen merkwürdigen Raums eine Flohfalle trug. Sie war elfenbeinern und walnußgroß. Sie beschrieb mir, wie das Wetter war damals und ihr Bett, in dem ein Mann wach wurde, etwas später als sie. Dieser junge Mann, sagte sie und schloß ihre Augen, als wolle sie in sich herausfinden, wie das war vor langer Zeit. Naja, damals war ich auch jünger, sagte sie nach einer längeren Pause. Das einzige, was er mir zurückließ, war diese Flohfalle. Und es sind Affenflöhe drin.
Sie spürte, in mir einen Zuhörer gefunden zu haben, der ihr erlaubte, an ihre Erinnerungen zu gelangen. Vielleicht hatte sie jemanden gesucht, dachte ich, dem sie ihre Geschichten erzählen kann, viel eher, als jemanden, der ihr etwas vorliest. Es gibt noch ein andres Wesen in meinem Leben, nicht nur diese Flöhe, ich meine natürlich diesen Mann, nämlich einen Affen. Ich weiß nicht, wann ich ihn kriegte noch von wem. Manchmal glaube ich, ich habe schon als Kind mit ihm gespielt. Oder er ist mir zugelaufen, wie einem Katzen zulaufen, ich weiß es nicht mehr. Warten Sie, ich hatte einen Vetter, der fuhr zur See, der brachte mir manchmal etwas mit. Ich mochte ihn nicht, weil er so grobe Manieren hatte. Seine Geschenke lehnte ich fast alle ab. Warum sollte ich ausgerechnet dieses häßliche Vieh dort angenommen haben? Sie schaute in die Höhe, wo sich in der Ecke oberhalb eines der beiden riesigen Fenster, in der Rundung der Stukkdecke, eine Ausbuchtung befand wie in allen vier Ecken des Raums. Er wird sich nicht sehen lassen, solange Besuch da ist, sagte meine Gastgeberin. Wissen Sie, wie alt Affen werden? Er wird mich überleben. Sehen Sie, wie gehässig er aus seinem Versteck heraus grinst?
Ein Affe in diesem Zimmer war so seltsam und merkwürdig wie eine Flohfalle oder diese Stukkdecke mit ihren labyrinthischen Arabesken oder diese Wand, bis zur Decke hin voller Bücher, die ich erkunden wollte, und natürlich sah ich nichts und dachte mir, vielleicht fletscht er seine Zähne und hat es auf mich abgesehn, weil er eifersüchtig ist.
Schauen Sie diese Supraporte an, er beleckt und beknabbert sie. Sehen Sie dieses weibliche Wesen, halb Fisch halb Mensch, dauernd schleckt er an ihren Brüsten herum. Das Biest versucht es auch bei mir. Oh, ich sage Ihnen, es hat eine Menge dieser unanständigen Angewohnheiten. Es macht nicht selten Anstalten, auf mir zu liegen wie ein Mann. Eines Morgens wachte ich sehr früh auf. Es regnete. Ich liebe es, wenn ich vom Geräusch des Regens erwache. Ich liebe den Regen, wenn er den Tag langsam, so samten aufdämmern läßt. An solchen Tagen schaue ich gern in meine Spiegel. Haben Sie sich gewundert, bei mir so viele zu sehn? Sie haben dann silbrige Schatten, sie sind wunderbar, sie sind wie Regen. An diesem Morgen wollte ich in meinen kleinen Spiegel schauen. Nicht alle Spiegel sind gleich, jeder ist eigensinnig. Es gab Spiegel, die mich erschreckten, sobald ich hineinschaute. Dieser dort, der kleine mit dem einfachen Rahmen, er schmeichelte mir. Manchmal sagte er zu mir: Du siehst gar nicht so übel aus. Ich weiß, er lügt. Aber ich mochte ihn, ich bin eine alte Frau, das macht nichts. An diesem Morgen wollte ich schön sein. Und ich war schön, das fühlte ich. Ich fand mein Gebiß nicht. Mein Affe hing dort über diesem Fenster, dort an der Stukk-Leiste. Mit irgendetwas klapperte er. Als er meine Aufmerksamkeit bemerkte, steckte er die Zahnprothese zwischen seine Zähne. Mit einmal war er unten und vor dem kleinen Spiegel. Außer mir, warf ich ein Schminkfläschchen nach ihm. Er saß ungerührt vor dem Spiegel. Er kannte meine Vorliebe für diesen Spiegel. Nie wieder habe ich gewagt, hineinzusehen. Glauben Sie mir, Spiegel haben ihre eigne Wahrheit.