Rußland

Wir haben alle bewußt oder unbewußt an Rußland ein Unrecht getan und tun es noch heute. Ein Unrecht an Nichtgenugwissen, Nichtgenuggerechtsein. Denn wie es erklären, daß wir alle zehnmal in Paris, zehnmal in Italien, Belgien, Holland, daß wir in Spanien und im Norden gewesen sind und aus einem törichten läßlichen Hochmut nie einen Blick ins Russische getan?

Jedenfalls haben wir allzulange die ungeheure Vielfalt der russischen Leistung nachlässig aus unserem Blickfeld gelassen -, eines der genialsten und interessantesten Völker der Erde.

Wieviel hat uns dieser westliche Hochmut gekostet, denn wie wenige sind heute unter uns im geistigen Europa, die aus eigener Anschauung und Erfahrung dieses neue Rußland mit dem alten gerecht zu vergleichen wissen.

Die Hälfte aller Urteile über das gegenwärtige Rußland sind heute leider Vorurteile, das heißt vor das eigene Blickfeld geschobene starre Standpunkte, die andere Hälfte Nachurteile, will sagen, anderen nachgeredete Meinungen.

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Stefan Zweig veröffentlichte diese Notizen 1928, nachdem er monatelang Rußland bereist hatte. Bis heute haben sie ihre Gültigkeit bewahrt. Seinerzeit war er einer der berühmtesten Schriftsteller Europas. 1934 floh er vor den Nazis nach England und schließlich nach Brasilien, wo er sich 1942 mit seiner Frau das Leben nahm.

Die Erstausgabe von Zweigs Schachnovelle

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